SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Verhalten, zwischen gutem und schlechtem Verhalten?
Kinder und Jugendliche mit einer nicht ausgereiften Psyche im emotionalen Bereich verhalten sich so wie der siebzehnjährige Dennis aus dem Beispiel mit dem Einbruch in den Baumarkt. Sie lassen keine sie steuernde Gewissensinstanz erkennen, sehen auch nicht, dass sie sich in einem Konflikt befinden, sondern handeln rein zweck- und lustgesteuert und auf den Moment des Handelns bezogen.
Eine andere Möglichkeit, zu erkennen, dass eine Entwicklungsverzögerung im psychischen Bereich vorliegt, besteht etwa darin, sich zu vergegenwärtigen, wie Kinder sich verhalten, wenn sie zu etwas aufgefordert werden, zu dem sie im Moment nicht unbedingt Lust haben. Die klassische Situation in der Schule. Einem Grundschüler, der regelmäßig ohne Meldung dazwischenruft, ungefragt aufsteht und während des Unterrichts herumläuft, fehlt eindeutig die altersgemäße Reife. Der Lehrer kann den Schüler nicht dadurch dazu bringen, dieses Verhalten zu ändern, indem er es ihm erklärt. Er wird auch nicht auf Strafen oder die Androhung von Strafen reagieren, übrigens ein durchaus wichtiger Aspekt in der Diskussion.
Unabhängig von moralischen Werturteilen funktioniert ein pädagogisches Einwirken auf den Schüler bei einer nicht entwickelten Psyche weder im positiven noch im negativen Sinne, also weder durch gutes Zureden noch durch die Ankündigung von Konsequenzen. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, damit die Verantwortlichen für Bildung gar nicht erst in Gefahr geraten, sich in sinnlosen Diskussionen über »richtige« oder »falsche« Pädagogik oder Erziehung zu verlieren. Für die Wirkung auf die Psyche ist es grundsätzlich unerheblich, ob pädagogisch »wertvoll« oder fragwürdig gehandelt wird. Beide Bemühungen laufen ins Leere, wenn die kindliche Psyche sie nicht registrieren kann. Eine Diskussion über Strafen spielt deshalb bei den beschriebenen Problemen in der Schule überhaupt keine Rolle.
Die einfachste Möglichkeit, sich zu verdeutlichen, worüber ich hier spreche, ist immer, sich zu fragen, wie in einer vergleichbaren Situation wohl ein etwa sechzehn Monate altes Kleinkind reagieren würde. Würde es sein Verhalten ändern, wenn ich ihm erkläre, dass es nicht auf die Straße laufen darf, weil es sonst überfahren werden könnte? Nein, würde es nicht, und jeder Erwachsene weiß das. Würde es sein Verhalten ändern, wenn ich ihm zur Strafe dafür, dass es auf die Straße gelaufen ist, einen Klaps auf den Po gebe? Nein, würde es nicht, und jeder Erwachsene weiß auch das.
Warum also ändert der Grundschüler sein Verhalten nicht, obwohl ihm die Lehrerin schon zwanzigmal gesagt hat, er solle sich melden, wenn er etwas sagen möchte? Und warum ändert er sein Verhalten genauso wenig, wenn sie ihn dafür bestraft? Eben, weil er sich exakt so verhält wie das sechzehn Monate alte Kind. Er kann die üblichen Abläufe im Klassenverband nicht erkennen, da er nicht realisiert, dass im Moment Unterricht stattfindet. Er erkennt die Lehrerin nicht als Gegenüber, das ihn zumindest in jenen Momenten, in denen er in der Schule sitzt, steuert, sondern er , der Schüler, ist es, der unablässig die Lehrerin zu steuern versucht.
Für den Lehrer ist solch ein Kind etwa daran zu erkennen, dass es so gut wie nie Arbeitsaufträge beim ersten Mal ausführt. Ich sage bewusst »so gut wie nie«, denn es geht auch hier wieder nicht darum, zeitweilige Abgelenktheit oder die eine oder andere Frechheit, die zur Kindheit gehören, zu pathologisieren. Der Effekt, von dem ich rede, wird mir dagegen von sehr vielen Lehrern berichtet. Fordern sie die Klasse auf, ein bestimmtes Buch oder Heft aus dem Ranzen zu holen und es auf den Tisch zu legen, muss mittlerweile ein erheblicher Teil der Kinder in einer Grundschulklasse immer mehrfach dazu aufgefordert werden. Entweder hören sie gar nicht hin, oder sie nötigen den Lehrer zu einer weiteren Reaktion, indem sie Nachfragen stellen wie »Ich auch?« oder »Nur das Buch oder auch das Heft?« oder – gerne auch mal mitten im Deutschunterricht – »Das Mathebuch?«.
Solche Reaktionen erfolgen fast automatisch in jeder Situation. So wie das sechzehn Monate alte Kind immer wieder testet, wie sich der Erwachsene vor ihm wohl verhält, wenn es ihn anfasst, auf ihm rumklopft oder etwas äußert, so testet auch der Neunjährige mit der Psyche auf dem Stand von sechzehn Lebensmonaten permanent aus, wie der Lehrer wohl reagieren wird. Wohlgemerkt:
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