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Soucy, Gaetan

Soucy, Gaetan

Titel: Soucy, Gaetan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trilogie der Vergebung 02 - Die Vergebung
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wie ihn etwa Drogen hervorrufen, die ihn all seiner Mittel beraubte. Sein Unbehagen, um nicht zu sagen seine Beklemmung gegenüber Maurice waren dasselbe Unbehagen, dieselbe Beklemmung, die er stets in seinem Verhältnis zu sich selbst verspürt hatte. Doch was er an seiner eigenen Person verachtete, bemitleidete er an seinem Nächsten, er bedauerte ihn und liebte ihn dafür nur umso mehr.
    Louis näherte sich dem Sessel, in dem der Junge gesessen hatte, und kniete nieder. Er nahm das Kissen, an dem sein Kopf gelehnt hatte. Er betrachtete es lange. Er vergrub sein Gesicht darin, er atmete es bis auf den Grund seiner Lungen ein, die Augen geschlossen. Ja, Mitleid, dachte er, ein Mitgefühl im Feuergewand, die heftigste aller menschlichen Regungen.
    Ein Windstoß drückte die nicht richtig geschlossene Tür wieder auf und blies einen Schwall eisig kalter Luft in das Haus. Louis erhob sich. Er schreckte zusammen, als er am Wegesrand die Dame aus dem Laden sah. Sie saß in der Hocke und zeichnete mit der Spitze eines Zweiges gedankenversunken im Schnee. »Die Dorfdeppin«, dachte er und schloss die Tür.
    Aber doch seltsam, wie er plötzlich fand, dass sie seiner Mutter ähnelte.
    * * *
    Louis hatte den Schaukelstuhl an das Fenster gerückt, um die Rückkehr der Dorfbewohner abzupassen. Er hatte diszipliniert einige Pfannkuchen gegessen, Zwiebelmus und einige Streifen gebratenen Specks, da er festgestellthatte, dass er seit dem Vortag so gut wie nichts gegessen hatte. Die Beine in eine Decke gewickelt, ergriff ihn eine sanfte Benommenheit. Seine Gedanken reihten sich zu einer Rauchgirlande aneinander. Er fragte sich, ob die Frau über lebt haben konnte, nachdem sie mehr als sechsunddreißig Stunden im Schnee verschüttet gewesen war. Ihr Verschwinden bedeutete nicht unvermeidlich den Tod, vielleicht war sie nur verletzt … Bilder von Françoise mischten sich darunter, trieben durch seinen Kopf, ganz von selbst, ohne dass er sie herbeirief (die üppige Lebensfülle ihrer Brust und der Brunnen ihres Mundes, ihre Haare mit dem Geruch und der Farbe des Spindelbaums). Dies breitete in seinen Gliedern ein Gemurmel von Erinnerungen aus, wie Vögel, die unter den Blättern eines schlafenden Baumes zwitschern.
    Die Standuhr hörte auf zu schlagen, und die plötzliche Stille hatte etwas Greifbares, das ihn aus seiner Schläfrigkeit holte. Sicher hatte man vergessen, das Uhrwerk aufzuziehen. Es erschien ihm jetzt sonderbar, in diesem fremden Haus zu sein. Das Holzfeuer schillerte purpurn auf dem Parkett. Über eine halbe Stunde war vergangen, und Maurice war noch immer nicht zurückgekehrt.
    Doch vielleicht war er ohne sein Wissen hereingekommen und direkt nach oben gegangen? Louis nahm sich eine Petroleumlampe und stieg die Treppe hinauf. Er ging zu dem Zimmer, in dem ein Licht brannte. Dort lag alles brach. Das Bett war nicht gemacht, Hosen, ein Hockeytrikot und Unterwäsche lagen auf dem Boden, der mit eingerollten Socken wie mit Pferdeäpfeln übersät war. Das Zimmer eines Internatsschülers, der über die Ferien bei seinen Eltern ist.
    Aber Maurice war nicht da. Louis vermutete, dass der Junge der Versuchung nicht hatte widerstehen können und dass er gegen die Anweisung seines Vaters zu den Bergungsmannschaften am Fjord gegangen war.
    Man konnte die Liebe des Vaters erahnen, allein da er, obgleich sie schon verheiratet war, Julia ihr eigenes Zimmer gelassen hatte. Es war das kleinste auf dem gesamten Gang, Julia hatte immer in allem nachgegeben. Es hatte sich beinahe nichts verändert. An die dreißig Puppen befanden sich darin. Während die Jungen, wenn sie erwachsen werden, nichts von dem aufbewahren, was sie gewesen sind, weil sie sich dessen schämen, werfen die Mädchen gar nichts weg, Louis hatte es oft beobachtet, sie lassen ihre Kindheit im Geheimen verblühen, nehmen nur dann und wann einige zarte Nachbesserungen vor.
    Alles war sorgfältig eingeräumt, in einer grazilen Ordnung. Fotos von Maurice bedeckten die Wände, von ganz alten bis zu ganz neuen. Auf einem war er im weißen Hemd inmitten eines Chores zu sehen. Auf einem anderen, im Alter von sechs Jahren, im Kasperlekostüm. Auf einem dritten kniend, einen Rosenkranz um die Hände gelegt, den Blick zum Paradies gewandt, wie zu etwas Wirklichem, das man mit eigenen Augen sehen kann …
    Louis sah einen Schatten im Hinterhof, nahe dem Schup pen. Vielleicht Maurice? Er löschte die Lampe, um nicht gesehen zu werden. Im Gang stieß er mit dem Fuß gegen einen

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