Soucy, Gaetan
Beistelltisch, einige Blätter raschelten zu Boden. Er sammelte sie so gut er konnte auf und ging wieder hinunter in das Esszimmer.
Es war die Fortsetzung des Stückes, das Bruder Decelles komponiert hatte. Louis war leicht verärgert überMaurice. Warum hatte er ihm nicht gesagt, dass die Seiten in seinem Besitz waren? Zugleich verspürte er, da er sie in den Händen hielt, eine gewisse Gereiztheit. Er befand sich in einem Geisteszustand, in dem die Errungenschaften anderer ihn auf seine eigene Mittelmäßigkeit zurückwarfen, und Neid war ihm ein Gräuel. Er überwand aber schließlich doch sein Zögern, setzte sich an den Tisch, legte die Blätter nahe dem Kerzenständer zwischen die Wachsplättchen.
Das Stück umfasste ein Dutzend Seiten, unterteilt in vier Gesänge, vier kurze Gebete. Der Komponist hatte es vielleicht an einem Wochenende geschrieben, man weiß es nicht. Es war eines jener kleinen Stücke, an denen man den wahren Künstler erkennt. Louis las aus Pflichtgefühl weiter, doch bald schon wirkte wieder der Zauber.
Und er las weiter, verhext, wie von einem Besen davongetragen. Die Sorgfalt, mit der die Noten transkribiert worden waren, kündete vom verhaltenen Stolz, der Liebe, der Hingabe, die der Komponist seiner Musik entgegenbrachte. Wer mochte dieser Bruder Decelles sein? Bapaume stellte ihn sich in Nagelschuhen vor, den Talar geflickt, die Brille mit Klebestreifen zusammengehalten, dem Spott anheimgegeben, den Kopf erfüllt von Kenntnis weit wie eine Kathedrale. Wohl wissend, dass seine Musik Schülern ausgeliefert war, die verroht waren von Sport und lüsternen Träumereien, Eltern und Brüdern, von denen vier Fünftel nicht ein e von einem c unterscheiden konnten. Und mit einem leichten inneren Lächeln, voll Traurigkeit und Ironie, ergeben in die ewige Undankbarkeit.
Das Finale bestand aus einem Gebet der Vergebung. Dieses ging weit über die einfache Beherrschung desKontrapunktes hinaus, es rührte an die göttliche Anmut, an die Reinheit des Seelenschmerzes, und Bapaume fühlte, wie die Lider ihm vor Tränen brannten. Ja, dieser Bruder Decelles musste wohl auch das Gefühl haben, lebend begraben zu sein im Sarg des Vergessens, in der schweren Erde der Gleichgültigkeit der Menschen und der Zukunft. Und trotz allem durchzuhalten, in dem Wissen, dass es unmöglich ist, die Toten aufzuerwecken, weiterzumachen trotz und gegen alle Erschöpfung, die das Erfinden mit sich bringt, bedeutete einen Starrsinn und einen Mut, von denen Menschen, die nichts erschaffen, jene wandelnden Leichname, keine Vorstellung hatten. »Ich werde diesem Bruder Decelles schreiben«, sagte Bapaume sich.
Das Werk endete auf der Mitte einer Seite, zunächst alle Stimmen unisono, dann entfielen sie eine nach der andern wie erstickte Vögel, bis am Ende eine einzige blieb, die auf einer strahlenden Fermate ausklang. Louis verweilte einen langen Augenblick fasziniert, ohne sich von diesem b losreißen zu können, das die Bewegung im Geheimnis anhielt.
Brüsk warf er das Blatt von sich auf den Tisch, mit derselben heftigen Bewegung, mit der er sich eines blutigen Messers entledigt hätte. Unten auf der Seite stand eine Notiz, so klein geschrieben, dass man sich das Blatt unter die Nase halten musste:
Transkribiert aus den Archiven von Saint-Aldor von Bruder Adrien Decelles. Komponiert um 1927 von Monsieur Louis Bapaume, Musikmeister im Waisenhaus der Kreuzigung.
* * *
Er stieß voller Wucht die Tür auf. Er ging in den Hinterhof.
»Maurice?… Maurice?«
Die Hunde begannen ein Heulkonzert, das ihn zurückweichen ließ, und Louis stürzte in die Holzscheite.
Seine Pirouette hatte ihn gedemütigt, selbst ohne dass es jemand gesehen hätte. Er nahm eine Handvoll Schnee und formte daraus einen Ball, den er zu den Hunden hinüberwarf. Das Gebell verdoppelte sich noch. Er schickte einen zweiten hinterher. Dann warf er sich händeweise Schnee über den Schädel, rieb ihn sich ins Gesicht und in den Nacken, haltlos, voller Rage, als wollte er der Ordnung der Dinge trotzen durch kopfloses, sinnloses Tun.
Er blieb zögernd auf dem Treppenabsatz vor dem Haus stehen. Er hatte das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden. Man hatte ihn hier zurückgelassen, um sich wichtigeren Dingen zuzuwenden! Man duldete seine Gegenwart, ohne sich allzu sehr darum zu sorgen, wie bei einem harmlosen Schwachsinnigen, den man seinen Gespinsten überlässt. Wozu hatten denn alle Bedenken der vergangenen Monate, der Abstieg in die Tiefen der
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