Soucy, Gaetan
Ouvertüre schrieb, wurde mir mit einem Schlag bewusst, dass alle meine Anstrengungen … ach, was tut’s. Mein Stolz war schwer beschädigt. Die Musik hat mich für immer verlassen. Und überhaupt, wen in teres siert das schon? Das alles muss Ihnen wirr vorkommen, und ich sehe, dass ich Ihnen lästig falle …«
»Nein, das tun Sie nicht.«
»Wenn ich Ihnen Leiden verursacht haben sollte … wäre es um so schlimmer, alles vergessen zu haben …«
Die Frau antwortete nicht. Nichts war ihrer Haltung anzusehen als ein müdes Verstehen und eine von allem enthobene Traurigkeit, die nicht mehr viel von der Welt erwartet oder von dem, was die Menschen füreinander tun können. Sie ging langsam an Bapaume vorbei zu ihrer Tasche am anderen Ende der Orgelbank. Sie holte zwei Stoffsäckchen daraus hervor.
»Hier«, sagte sie.
Es war, als habe Bapaume nicht gehört. Er griff sie mit verstörtem Blick am Arm. Und ganz voller Eifer, wie ein Beichtender, der mit Inbrunst seine Schuld eingesteht:
»Ich dachte, es wäre eine Frau!«
Die Musikerin zog die Augenbrauen zusammen. Sie ent wand behutsam ihr Handgelenk aus seiner Umklamme rung:
»Wovon sprechen Sie?«
Louis flüsterte, doch war in seinem Blick ein Schrei der Verzweiflung:
»Die kleine Tote hinter den Felsen! … Das wusste ich nicht. Ich dachte, es wäre eine Frau! Verstehen Sie? Eine Erwachsene, kein kleines Mädchen! Und warum hat man sie so aufgebahrt, so, wie man sie gefunden hat? Muss man die Toten nicht einkleiden?«
»Der Küster wollte es so. Ich weiß nicht, warum.«
Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu, dass sie ihre Lehrerin und dass es ein sehr gutes Kind gewesen war. Dass sie darüber lieber nicht sprechen wollte. Draußen hörte man eine Menschenmenge, die sich in Bewegung setzt, das Knirschen der Stiefel im Schnee.
»Sie müssen sie sehr gemocht haben, Madame, dass Sie nicht darüber sprechen wollen.«
Die Frau wiederholte: »Hier.« Sie hielt ihm die beiden Säckchen hin. Bapaume nahm sie in die Hände und besah sie sich, ohne zu verstehen. Die Frau holte aus ihrer Tasche eine Zigarettenschachtel und zündete sich mit falscher Lässigkeit eine Zigarette an.
Bapaume schaute sie verblüfft an. In der Kirche rauchen! Die Dame bemühte sich, natürlich zu wirken, aber augenscheinlich war sie den Tabak nicht gewohnt. Kaum war der Rauch in ihrem Mund, hatte sie ihn schon wieder ohne einzuatmen ausgestoßen, mit einer unfreiwilligen kleinen Grimasse, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Ich war vierundzwanzig. Ein komischer Gedanke, dass ich damals schon vierundzwanzig war. Sie erschienen bei Einbruch der Nacht, einmal die Woche, manchmal auch zweimal, wenn Sie vom Musikunterricht bei den kleinen Zwillingen der von Crofts kamen. Ich fand, dass ich Sie nie oft genug sah, und manchmal wurde ich wagemutig. Ich strich um das Haus der von Crofts, einfachum Sie ein wenig zu sehen, von weitem, durch ein Fenster. Ansonsten wagte ich nicht einmal mehr, das Haus zu verlassen. So sehr verfolgte mich die schmerzliche Hoffnung, Sie könnten unangekündigt vorbeikommen. Sie kamen durch den Hinterhof, um sicher zu sein, nicht gesehen zu werden, und gingen erst bei Morgengrauen. Und eben an jenem Morgen hatte ich mir gesagt: »Na, da hat er schon wieder etwas vergessen!« Und ich nahm diese beiden Dinge und tat sie in meine Handtasche, um sie Ihnen bei unserem nächsten Treffen zurückzugeben. Mein einziger Fehler war zu glauben, dass ich Sie noch am gleichen Tag wiedersehen würde. Aber am frühen Abend erfuhr ich, dass Sie weggegangen waren. Dennoch wusste ich, dass es irgendwann zu diesem Treffen kommen würde, denn ich konnte unmög lich glauben, dass Sie mich, ohne Abschied zu nehmen, verlassen würden. Unvorstellbar. Deswegen sind diese beiden Dinge immer in meiner Tasche geblieben. Seit zwanzig Jahren habe ich keinen Schritt vor die Tür getan ohne sie …«
Bapaume, in Aufruhr, betastete die Säckchen, ohne sie zu öffnen.
»Aber was ist das?«
»Als ich Sie heute sah, dachte ich für einen Augenblick … wie soll ich sagen? Ich dachte, Sie hätten den Weg hierher meinetwegen gemacht. Zumindest ein bisschen. Um mich um Vergebung zu bitten. Warum sehen Sie mich plötzlich so an?«
Er antwortete nicht. Beschämt trat sie mit dem Absatz die Zigarette aus. Da sie nicht wusste wohin mit dem Zigarettenstummel, steckte sie ihn schließlich wieder zurück in die Schachtel.
Im ersten Säckchen befand sich eine Pfeife, im zweiten ein harter
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