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Soucy, Gaetan

Soucy, Gaetan

Titel: Soucy, Gaetan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trilogie der Vergebung 02 - Die Vergebung
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abwenden, denn sie hatte die Augen leicht geöffnet, als würde sie gleich aufwachen, was sie noch schöner machte.
    Louis faltete die Hände. Doch die Musik von der Orgel löste in ihm eine solche Beklemmung aus, dass es ihm unmöglich war, ein Gebet vorzutäuschen. Er ging in den hinteren Teil der Kirche. Er achtete darauf, die Steinplatten beim Auftreten nur mit den Schuhspitzen zu berühren. Der Küster, der seine Anwesenheit bis dahin noch nicht bemerkt zu haben schien, blickte dem Unbekannten mit trübsinniger Verwunderung hinterher. Louis fürchtete jeden Augenblick, angegangen zu werden (»Was machen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren! Für wen halten Sie sich?«). Die Holzstufen knarrten unter seinem Gewicht.
    Die Orgel war das Werk eines jener Handwerksleute, die wahre Botschafter Gottes auf Erden waren, und an die niemand sich erinnert. Bapaume hatte das Instrument bis ins Innerste gekannt. Er wusste, dass es einen Chor von Seraphim um sich zu scharen vermochte, die aus den entlegensten Winkeln des Paradieses geschwind herbeigeeilt kamen. Vom Lettner aus ging es noch eine weitere Treppe hinauf. Louis kam oben an, als das Stück gerade zu Ende war. Die Dame aus dem Laden saß an den Manualen.
    Sie hielt das Gesicht gerade, wie jemand, der vorbereitet ist auf das, was ihm widerfahren wird. Louis war mitten auf der Treppe stehen geblieben, aus der Falltür schauten lediglich sein Kopf und seine Schultern. Die Mu si kerin bemerkte ihn aus den Augenwinkeln. Sie hob die Hände an ihr Gesicht und massierte sich mit müder Hand die hohen Backenknochen, dehnte die Haut über den Wangen, führte die Finger hinter dem Nacken zusammen. Dann fielen ihre Handgelenke wieder schlaff auf die Schenkel. Bapaume erklomm die letzten Stufen.
    »Was hat das zu bedeuten? Woher kennen Sie dieses Stück? Es ist nie veröffentlicht worden. Ich habe es vor über 20 Jahren in Paris geschrieben!«
    Dies alles hastig gesprochen, in einem verängstigten Flüstern.
    »Es gab eine Zeit, als Sie mich nicht siezten, Monsieur Bapaume.«
    Louis war wie vor den Kopf gestoßen. Er musterte das Gesicht der Frau. Außer der Ähnlichkeit mit seiner Mutter sagte es ihm jedoch nichts, er hätte schwören können, es bis heute noch nie gesehen zu haben.
    »Wenn ich recht verstehe, waren wir einmal miteinander bekannt, Madame. Aber … es tut mir leid … ich kann mich nicht an Sie erinnern …«
    Er stand leicht nach vorn gebeugt, hatte die Faust auf die Brust gelegt, seine Gesichtszüge drückten die ernsteste Bestürzung aus.
    »Das hieße also, ich hätte Ihnen dieses Stück beigebracht, Madame?«
    Sie ließ ihn darüber einige Sekunden nachsinnen. Dann, mit berechneter Gleichgültigkeit:
    »Ich hatte eine Klavierfassung davon angefertigt, nicht? Es erstaunt mich, dass Sie das vergessen haben. Wir haben es vierhändig gespielt, wir kamen gerade aus dem Bett, am letzten Morgen, an dem wir uns gesehen haben. Erinnern Sie sich. Das war just, bevor Sie weggingen.«
    »Wirklich, Madame? Wirklich?«
    Er setzte sich bestürzt auf die Orgelbank. Er schüttelte den Kopf. Er setzte zu flüchtigen Handbewegungen an, die sogleich wieder abbrachen. Sein Anblick erinnerte an einen Mann, dem soeben eine Katastrophe mitgeteilt wurde.
    »Eines der allerersten Stücke, die ich geschrieben habe. Ich war kaum zwanzig. Es stammt aus der Zeit, der segens reichen Zeit, in der ich komponierte, ohne darüber nachzudenken, so wie ein Biber Dämme baut, ohne die ge ringste Vorstellung davon zu haben, welchen Schaden er damit anrichten könnte. Was ich sagen will, ist … Glauben Sie, die Tuberkelbazillen wissen, was sie tun?… Ich meine die Frage ernst, Madame. Wenn Sie eine Bazille wären, hätten Sie eine klare Vorstellung davon, was für Unheil Sie anrichten?«
    »Nun ja, ich weiß nicht. Nein. Ich glaube nicht.«
    Sie betrachtete ihn mit Unbehagen und Argwohn, wie jemanden, der nicht mehr ganz bei Sinnen ist, und Bapaume bemerkte es. Er senkte erneut die Stirn. Man könnte glauben, er spräche mit sich selbst.
    »So etwas, ich hatte das Stück völlig vergessen … Ja, eines meiner allerersten … Ich habe das Manuskript ganz erstaunt letzten Sommer wiedergefunden … So beschloss ich, damit mein Oratorium zu beginnen. (Er blickte zu ihrauf.) Ja, stellen Sie sich vor, ich komponierte ein Oratorium. Das ist mein Ernst, Madame. Ich war erniedrigt, verkannt, zudem vom schlimmsten Unheil vernichtet, das einem Menschen widerfahren kann … Und noch wäh rend ich die

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