Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
Straße konzentriert, werfe ich noch ein paar flüchtige Blicke auf sein Gesicht und denke an die anderen Männer in meinem Leben, denen ich vertraue: meinen Dad, Danny.
Tim …
Kann Lewis mir vielleicht helfen, auch dieses Rätsel zu lösen? Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schalte es wieder ein. Eine neue Nachricht von Adrian erscheint auf dem Display; seit meinem Gespräch mit Tim schickt er mehrere am Tag.
Plane immer noch ein persönliches Treffen. Weiß sicher bald mehr. Dein Freund, A.
»Neuer Freund?«, fragt Lewis lächelnd.
Ich schnalze abfällig mit der Zunge. »Kein Interesse. Jungs sind so was von oberflächlich.«
Die Autobahn führt uns um London herum. Noch fünfundvierzig Minuten, bis ich wieder zum Soul Beach kann. Wo Danny auf mich wartet. Ich starre in die undurchdringliche Schwärze über uns und versuche, mir das wolkenlose Blau am Strand vorzustellen.
Ein leuchtend rosa Licht zuckt über den Himmel. Dann ein orangerotes. Dann ein grünes.
»Oh Gott, ein Feuerwerk«, flüstere ich und denke an Triti. Ist das eine Art übernatürliches Zeichen dafür, dass sie fort ist?
»Na klar«, erwidert Lewis. »Sag nicht, du hast vergessen, welcher Tag heute ist?«
Blinzelnd denke ich nach. Ist es Oktober? Oder November? Ist nach dem Datum zu fragen nicht einer dieser Tests für Unfallopfer und verwirrte alte Leute, wenn man rauskriegen will, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben?
Nein, es hilft nichts. Manchmal weiß ich ja noch nicht mal, ob Sommer oder Winter ist.
»Heute ist der fünfte November. Bonfire Night«, erklärt Lewis.
Ein weiterer Feuerwerkskörper schießt in den Himmel und explodiert. Er hat die Form einer weißen Chrysantheme. Symbolisiert diese Blume nicht den Tod?
Die Erinnerungen verblassen, langsam, wie alte Fotos, und alles, was bleibt, ist Einsamkeit.
Mit jedem Tag, der vergeht, erscheint mir Meggie weniger real. Ihre letzten Augenblicke hatten etwas so Kostbares, weil sie nur ihr und mir gehörten. So viele Monate lang war sie öffentliches Eigentum gewesen. Millionen sogenannter Fans zerrten an ihr, scharwenzelten um sie herum und noch Schlimmeres.
Und mit einem Schlag waren wir ganz allein.
Doch einen perfekten Moment mit einem toten Mädchen zu teilen ist nicht so wunderbar, wie ich es mir vorgestellt hatte. Denn mit den Toten kann man nicht in Erinnerungen schwelgen und schon bald verschwimmen die Details. Ein-, zweimal habe ich Trost in dem gesucht, was die Dummen tun, und mir im Internet Videos von ihr angesehen. Es war abstoßend.
Ich will nicht mehr allein sein. Ich sehne mich nach Gesellschaft. Nach jemandem, der mich so versteht, wie sie es getan hat. Jemandem, der mich liebt.
Ich habe versucht, dagegen anzukämpfen, aber in meinen Träumen, ob bei Tag oder Nacht, taucht immer wieder derselbe Name, dasselbe Gesicht auf.
Alice.
Es müsste doch genügen, sie zu sehen, ihre Stimme zu hören.
Aber ich fürchte, es wird eine Zeit kommen, in der ich den Kampf gegen mich selbst verlieren werde.
59
Ich sitze vor dem Bildschirm und versuche, genug Mut zu sammeln, um zum Strand zu gehen.
Es fehlt nur ein halbes Dutzend Mausklicks.
»Meggie, ich habe Angst«, flüstere ich, obwohl sie mich noch gar nicht hören kann.
Angst, nichts verändert zu haben oder alles. In den letzten paar Monaten war der Strand für mich wie ein sicherer Hafen. Ein Ort, den ich nicht beeinflussen oder ändern konnte, weil ich dort nur zu Besuch war. Gut, vielleicht gelingt es mir hin und wieder, meine Schwester aufzuheitern, und vielleicht habe ich auch Danny einen Sinn für sein Leben im Tod aufgezeigt, aber es gab keine Verbindung zwischen meiner Welt und ihrer.
Bis jetzt.
Draußen hat das Knistern und Knattern des jämmerlichen Feuerwerks in unserem Stadtteil begonnen. Die Luft ist sicher voll von feuchtem Rauch und der Parkplatz vor dem Pub voller verängstigter Babys und enttäuschter Kinder und verzweifelter Eltern, die so tun müssen, als gäbe es nichts Tolleres als Wunderkerzen, die schon erlöschen, bevor man damit auch nur den ersten Buchstaben seines Namens in die Luft geschrieben hat.
Meggie mochte keine Feuerwerke. Dad hat immer gewitzelt, dass sie es nun mal nicht ertragen könne, wenn irgendetwas die Aufmerksamkeit von ihr ablenke, selbst wenn es nur ein Knallfrosch sei.
Tja, heute ist das nicht mehr so witzig.
Na los, Alice, ermahne ich mich. Ich stehe auf, tigere in meinem Zimmer auf und ab und erhasche dabei einen Blick auf mich in der Spiegeltür
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