Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
wirklich keinen Ausweg? Ist noch nie jemand gegangen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Nicht seit ich hier bin. Aber ich habe Gerüchte gehört.« Er lacht, aber es klingt bitter. »Sieh dich doch mal um, Alice, das hier ist ein riesiges Open-Air-Studentenwohnheim. Natürlich gibt es da Gerüchte. Für manche Leute ist das so was wie ein Hobby. Sich alle möglichen Geschichten ausdenken. Aber ich weiß nicht, ob ich ihnen glauben soll.«
»Was sind das denn für Gerüchte?«
»Dass man hier nur wegkommt, wenn …« Er beugt sich dichter zu mir. »Wenn das, weswegen man hier gelandet ist, aufgeklärt wird. Drüben in der wirklichen Welt.«
»Aha.« Das verstehe ich nicht, aber für einen Moment quäle ich mich zurück in diese wirkliche Welt und kritzele das, was er gesagt hat, auf ein Post-it in Herzchenform. Vielleicht kapiere ich es ja später. »Und das ist alles?«
Er sieht mich ruhig an. »Ihr seid nicht katholisch, oder?«
»Nein, Church of England. Und das auch nur, um auf die richtige Schule zu kommen.«
»Tja, am Soul Beach werden alle Götter akzeptiert. Oder gar keine. Aber in der Kirche damals haben die Leute manchmal vom Limbus erzählt.«
»Limbus?« Schon wieder dieses Wort.
»Er hat doch wohl nicht wieder mit seiner Religionsnummer angefangen, oder, Florrie?«
Ich drehe mich um und da steht Meggie, mit leicht gerötetem Gesicht. Kommt das vom Wetter oder vom Hinlegen ? Ach, geht mich ja auch nichts an. »Er leistet mir bloß Gesellschaft.«
Danny steht auf. »Es ist ja nur eine Theorie.« Er zwinkert meiner Schwester zu und geht. Seine Beine sind kräftig und muskulös und irgendetwas an seinem Gang unterscheidet sich sehr vom surfermäßigen Schlendern der anderen Jungs hier am Strand. Er hält sich irgendwie … aufrechter, so wie ein Soldat oder ein Sportler.
Meggie setzt sich auf seinen Platz neben mir und zieht die Knie an die Brust. »Was auch immer er dir erzählt, ignorier’s einfach.«
»Okay«, sage ich. Ich will sie nicht nach ihrem Aussehen fragen – das zerzauste Haar, die zerknitterten Kleider. Gar nicht erst darüber nachdenken, was hier abläuft, wenn ich nicht da bin.
»Es ist so schön, dich zu sehen, Florrie. Du bist mittlerweile das Einzige, was mir echt vorkommt.«
Ich blicke ihr ins Gesicht, um zu sehen, ob sie nur rumblödelt, aber sie meint es absolut ernst. »Ich weiß. Es ist, als hätte ich dich wieder …«
Wir verspüren nicht den Drang, noch mehr zu sagen. Das Wasser plätschert um die sonnengebleichten Pfähle des Stegs und alle Zweifel und Fragen, die mir nach dem Gespräch mit Danny geblieben sind, verschwinden. Wir sind einfach Schwestern, die zusammen rumhängen. Wie früher. Meggie und Alice.
Aber dann geht mir auf, dass es nicht ganz so ist wie früher, denn da musste ich immer tun, was sie wollte: Meggie alles hinterhertragen, auf sie warten, hoffen, dass sie mich bemerkt.
Nicht, dass meine Schwester so schrecklich gewesen wäre, überhaupt nicht. Sie war eben die Ältere und so wurde ich, wie jede kleine Schwester, zu ihrem ersten Publikum.
Aber hier am Strand ist es irgendwie anders. Sie braucht mich genauso sehr wie ich sie. Vielleicht sogar noch mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass wir einander ebenbürtig sind, dass wir uns verstehen.
Es klopft an meiner Tür. Mist.
Ich klappe den Laptop so weit zu, wie es geht, ohne dass er sich ausschaltet, und stelle die Boxen und das Mikro auf lautlos, falls Meggie etwas sagt.
»Alice?« Mein Vater.
»Ich mache Hausaufgaben.«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid, wenn ich störe. Aber Fran ist hier und sie würde gern mit uns allen gemeinsam reden.«
»Ich komme sofort runter«, rufe ich zurück.
Ich warte, bis seine Schritte verklungen sind, und schalte den Ton wieder ein. »Meggie?«
Sie sieht mich an, ihre großen blauen Augen sind so vertrauensvoll wie die eines Babys.
»Tut mir leid, ich muss gehen. Bin bald zurück, versprochen.« Ich versuche, es so klingen zu lassen, als wäre nichts Besonderes los.
Sie zuckt ganz leicht zusammen. »Okay.« Ihre Stimme klingt so zaghaft.
Ich werfe ihr einen Luftkuss zu und logge mich aus, doch als ich den Laptop herunterfahre, erfüllt mich plötzlich Furcht – es fühlt sich an, als wäre ich in einen eisigen See gefallen.
Fran? Das kann nur eins bedeuten.
24
Fran, die Frau von der Opferbetreuung, sitzt auf der Sofakante. Sie wirkt, als fühlte sie sich unbehaglich, aber das ist nichts Neues. Ich schätze, irgendwer hat ihr
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