Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
zerhacktes Kreuz aufpflanzen, überall dieselben überlangen rotweißen Fahnen wehen lassen. Sie wollen das tausendjährige Reich des Schmerzes errichten. Gehen Sie fort, solange es nicht zu spät ist!
Und er hatte ihr die Namen von möglichen Medikamenten aufgeschrieben. Papaverin, Laristin, Bismutsalz. Sie merkte sich alles. Ein paar Tage später ging sie mit dem Maler zu ihm. Es sollte eine freundschaftliche Unterhaltung sein, ungezwungen, um Soutine nicht zu verscheuchen. Eine Röntgenaufnahme müsse angefertigt werden. Der Maler willigt ein, Mademoiselle Garde zuliebe. Sie ging wieder hin, diesmal ohne ihn. Tennenbaum hielt den Befund in der Hand, den das neblige Bild ergeben hatte.
Ein sehr tiefes Magengeschwür, verstehen Sie? Zu weit fortgeschritten, um noch geheilt zu werden. Sein Organismus ist schwach und verbraucht.
Sprechen Sie lauter, sprechen Sie deutlich, Doktor Tennenbaum, ich kann Sie hier im Motorengeräusch nicht richtig hören!
Doktor Tennenbaum und seine Litanei vom großen kommenden Schmerz, die ihn jetzt wieder in Fetzen und mit Gerdas Stimme erreicht, im langsam vorwärts kriechenden Leichenwagen, unterwegs in die Hauptstadt des Schmerzes. Beschwörend, hoffnungslos. Es war wie ein großes schreckliches Glaubensbekenntnis. Sie hatte sich alles gemerkt.
Wer dem Menschen nicht die endgültige Schmerzlosigkeit schenkt, der ist kein Gott. Nein, nicht Schmerzlosigkeit. Schmerzfreiheit.
Wer sich verbiegt vor Schmerz, sich krampfhaft krümmt, den Rücken zum Buckel macht, sich windet auf dem Fußboden unter seinen Tritten, kann keinen andern Gott mehr erkennen als den Morphinmessias. Sertürner ist sein Gott. Die Tüftler aller Schmerzmittel sind die wahren Apostel.
Am unglaubhaftesten ist die Religion, die sich einen gekreuzigten Gott ausdenkt, um den Menschen mit dem Schmerz zu versöhnen. Es gibt keine Versöhnung! Doktor Tennenbaum schrie es fast. Die andauernde Ausstellung seines Martyriums ist eine Verhöhnung des Menschen. Sieh doch, was der Schmerz mit dir anrichten kann. Dein Gott hat den Schmerz erfunden, was für ein genialer Tüftler!
Du glaubst ihn zeitweilig vergessen zu haben, doch die millionenfache Darstellung der Kreuzigung ruft den Schmerz förmlich in den Körper zurück. Grünewald, der Isenheimer Altar, die geschwollenen Adern, das gepeinigte grüne Fleisch. Jedes Folterbild ruft eine andere Folter wach, die unvorstellbaren Möglichkeiten des Schmerzes. Die römischen Nägel, die mit einem schweren Hammer durch Sehnen und Muskelfleisch und Nervenbahnen geschlagen werden, bringen nicht nur den Gottessohn zum Aufjaulen und Winseln vor Schmerz. Der festgenagelte Gesalbte ist ein gigantischer Falschspielertrick. Jesus Christus ist der Sohn des Schmerzes, die physische
Versöhnung
des Schmerzes. Siehe, er ist vor Schmerz gestorben für dich. Zu deiner Erlösung. Wovon? Was kann es für eine Freiheit geben außer der Schmerzfreiheit? Keinerlei Versöhnung mit dem Schmerz! Keine stille Resignation, keine demütige Hinnahme!
Wer sich jahrelang krümmt, wird unversöhnlich. Der Sinn des Schmerzes kommt ihm wie Gott abhanden. Diesen Schmerz zu lindern, zu betäuben, aber physisch, natürlich physisch, nicht seelisch-spirituell – das wäre eine göttliche Aufgabe. Den Schmerz endlich abzuschaffen, wäre die vornehmste Aufgabe eines jeden Gottes, der diesen Namen verdient. Oder nicht verdient.
Tennenbaum war sichtlich erregt von seinem Credo. Es war sein Evangelium, die Frohbotschaft der Schmerzfreiheit nach Sertürner. Er ließ Gerdas Augen nicht aus dem Blick, als würde er nur zu diesen Augen sprechen.
Weil er den Schmerz in den Körpern installiert, fördert dieser Gott die Besatzung aller Länder, die den Schmerz exportiert, über die Grenzen trägt. Über die Schmerzgrenzen der Welt. Das tausendjährige Reich ist das Weltreich des schmerzenden Körpers. Die Gestapo wäre ohne ihn hilflos, stellen Sie sich vor! Die Zangen, mit denen in den Kellern die Fingernägel ausgerissen werden, nur sinnlose Instrumente, die Schläge in die Hoden – eine Zeitverschwendung. Ohne das Schmerzimperium gäbe es keine Diktatur von Gottes Gnaden. Die unendlichen Varianten, Schmerz zuzufügen, bestätigen die Macht der Folterer, verstehen Sie mich?
Der Schöpfergott verdammte sich selbst, indem er zum Körper den Schmerz erfand, aus tiefer Gedankenlosigkeit. Eine Schöpfung ohne Schmerzen, das wäre eine noble, reine Erfindung, sagte Doktor Tennenbaum bitter. Doch er hat sie nicht
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