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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Wünsche, in die Angst weiterwebender Träume. Es war seine letzte Verfeuerung gewesen. Niemand kennt den Weg. Keiner wird ihn je erfahren. Niemand kann wissen, wer der Mann im Leichenwagen ist, der da vorbeirollt. Es gibt nur die Bilder, die wenigen, die er nicht zerfetzt und verfeuert hat. Niemand kennt ihn.
    Lannegrace hatte Ma-Be gewarnt, als sie ihr die Handhabung des Morphins erklärte. Die Wirkung ist nicht immer vorhersehbar. Er wird oft nicht wissen, wo er ist, was er ist, welche Zeit es ist. Er wird unzutreffende Erinnerungen haben, Bewusstseinstrübungen, Zerrüttungen des Empfindens, entregelte Halluzinationen. Die Bauchfellentzündung führt in der Regel zu hohem Fieber, es kann zusätzlich zum Morphium-Delir zu Fieberdelirien kommen. Sein Bewusstseinszustand wird abwechseln, er wird wach liegen und dann wieder schläfrig wirken, in tiefen Schlaf abtauchen. Sein Gesicht wird durch das Fieber gerötet sein, er wird glühen, Schweiß wird auf seine Stirn treten. Rasender Puls, raschere Atmung, anfänglich eher hoher Blutdruck aufgrund des Schmerzes und des Fiebers. Dann wieder wird er komatös wirken, er wird daliegen wie eine lebendige Leiche.
    Marie-Berthe starrt stumm und entsetzt auf den Mund der Ärztin. Sie hört die Worte, die daraus hervorquellen, versteht keins von ihnen, nur bei den Lauten »lebendige Leiche« zuckt sie, scheint zu erwachen.
    Die Zeit selber rinnt wie die sauren Säfte, die aus der durchgebrochenen Magenwand in die Bauchhöhle rieseln und die Organe umspülen. Der Maler fährt hinein in seine eigenen milchigroten Eingeweide, in das Geweberot, das brennende Rot der Gladiolen, die er in Céret gemalt hat. Wo sie genau lagen, die Kontrollposten des Schmerzes, war nicht auszumachen. Das Morphin, das die gnädige Lannegrace ihm gespritzt hat, baut eine andere Zeit in seinen Körper, nistet da und dort und dehnt die Bahnen, federt die Empfindung und erleichtert den Schlaf wie ein griechischer Bruder.
    Eine prächtige Entdeckung, ein reines Geschenk für die Schmerzmenschheit. Göttliche Pflanze.
Papaver somniferum
. Aus dem getrockneten Milchsaft des Schlafmohns steigt der sanfte Stoff, der die Weiterleitung der Schmerzbotschaft an die höheren Stellen behindert. Gesegnetes Opioid, gelobt sei der tüftelnde deutsche Apotheker Sertürner, der das seit Ewigkeiten träumende Alkaloid des Opiums im Provinznest Paderborn isolierte. In Paderborn! Es klingt wie ein abgelegenes Paradies. Gepriesen Séguin und Courtois, alle deutschen und französischen Entdecker, die im Krieg lagen mit dem Schmerz. Und jetzt lagen ihre Länder, die der gemarterten Menschheit das Morphin geschenkt hatten, miteinander im Krieg. Was wäre die unendliche Möglichkeit des Schmerzes ohne das zaubernde Opiat, wie unvollständig, wie unerlöst die Menschheit ohne diesen Messias.
    Der Maler versucht sich mühsam zu erinnern, wer ihm die Geschichte der Entdeckung des Morphins erzählt hat. Ach ja, Tennenbaum! Der österreichische Arzt, der in Paris auf Durchreise war, auf dem Absprung nach Amerika. Doktor Tennenbaum, der Wien verließ, nachdem er die vor Begeisterung kreischenden Massen gesehen hatte. Er hatte sofort verstanden, ging nach Hause, wies seine Frau an, die Koffer zu packen. Nur eine kleine Reise nach Paris. Nur ein paar Tage. Nur das Notwendigste.
    Mademoiselle Garde war entschlossen, bei ihm Rat zu holen für den vom Schmerz gepeinigten Maler. Sie ging zur österreichischen Familie ins
Hôtel de la Paix
am Boulevard Raspail, in dem sie selber gewohnt hatte. Es war das Zimmer neben ihrem. Auf dem Flur hatte sie gehört, wie sie Deutsch sprachen. Und sie erfuhr von ihren Plänen.
    Tennenbaum, der nichts Gutes mehr erwartete, bis er den Fuß auf amerikanischen Boden setzen würde, hatte von der kommenden Epoche des Schmerzes gesprochen und vom Entdecker des Morphin. Sie sprachen lange auf Deutsch miteinander, Gerda Groth, die scheue Frau aus Magdeburg, und der Doktor der blanken Verzweiflung.
    Die Welt sorgt dafür, dass der Schwarzseher früher oder später recht bekommt, verstehen Sie?
    Er sprach so beschwörend auf Gerda ein, dass sie ganz benommen zum Maler in die Villa Seurat zurückkam. Tennenbaum hatte ihr zugerufen:
    Fliehen Sie mit ihm, solange noch Zeit ist! Jetzt, sofort, wenn Sie es nicht tun, werden Sie es immer bereuen. Es wird nichts Gutes mehr kommen, verstehen Sie: Es wird Krieg geben. Sie werden auch Frankreich besetzen, ganz Europa, Russland, bis nach Asien. Sie werden überall ihr

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