Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
man nicht ungeschehen.
Und diesem fauchenden Engel verdankte er die Pariser Verstecke, in der Rue Littré bei ihrem Vater, in der Rue des Plantes bei den Laloës, die sechs verschiedenen Unterkünfte in Champigny. Eine zerstörte Muse schützte ihn und stürzte ihn.
Sie saß auf dem Schemel im voranrollenden Leichenwagen, verrutschte manchmal leicht, ihr Haar war ungeordnet, ein Schaudern lief durch ihren Körper, wenn die suchenden Bestatter abbogen, sie zuckte auf, rückte zurück, schluchzte, seufzte, murmelte Dinge vor sich hin, von denen er schon nichts mehr wusste.
Morphin
Der Leichenwagen gleitet wie ein schwerer schwarzer Schlitten hinaus in die französische Sommerlandschaft, über die unauffälligste Brücke oberhalb von Saumur, die launische Loire Richtung Norden überquerend, von Chinon hinüber in den spärlichen Weizen, der blass daliegt wie Schnee. Das Schilf wird sich nicht mehr erinnern, nicht die winzigen Buchten, nicht das Geschrei der Wasservögel. Hinein in die Pappelalleen, die einsame Departementsstraßen säumen, durch verschlafene Dörfer rollend, über winzige Sträßchen, die zäh an den Reifen hängen, als wollten sie ihn bremsen, den drängenden
Corbillard
aufhalten, der immer nur nach Norden will, aber in zaghaftem Zickzack, alle Städte und größeren Ortschaften umschleichend wie Pestherde, an denen er sich anstecken könnte. Alle großen Achsen und die Kontrollposten der Besatzer meidend auf Abwegen, die sonst nur Heuwagen und rumpelnde, von Pferden gezogene Mistfuhren sehen. Nach Norden, im Rhythmus des Hin und Her, weitab von Tours und Orléans oder Chartres, verzweifelte lautlose Haken schlagend wie ein Hase, dessen einer Lauf gelähmt ist, durch die Sarthe und die Orne und die Eure in die völlig unwahrscheinliche Normandie hinauf, und dann erst ostwärts haltend auf das geheime Ziel Paris zu. Aber wie weit Frankreich plötzlich ist. Nach Norden, nach Osten, aber in furchtbarer Zeitlupe, Zeit verlierend wie Sand, der aus einem angestochenen prallen Sack rieselt, wie Blut, das in den Magen rinnt.
Er ist sein Schmerz in der Mitte des Bauches, in jener ansteigenden oberen Mitte, wo er eingewurzelt sitzt, durch die Magenschleimhaut presst mit seiner Gewalt aus Säure und ausstrahlt in Gegenden, wo er nie gewesen war. Er war jahrelang ein Schmerz gewesen, er ist jetzt ein Rinnsal. Die Magensäfte entleeren sich in die Bauchhöhle. Er leert sich, die Bauchfellentzündung flackert, heftigste Schmerzen brennen im ganzen Bauch. Es kann noch Stunden dauern, aber was sind Stunden? Keiner kennt ihre wirkliche Länge, sie haben kein Maß.
Als hätten sie sich geschworen, die unmöglichsten Umwege zu fahren, um das Schicksal zu täuschen, als hätte der schwarze Leichenwagen gespürt, wo sie saßen, die Kontrollposten des Todes, die rotweißen Schranken, die »Stop« brüllten mit zischendem »Sch«. Wo die Zyklopen mit umgehängten Maschinenpistolen auf Motorrädern mit Seitenwagen saßen, ihre Kautschukbrillen auf dem Helm, ihr metallenes Gehänge über der Brust, auf den Einsatz wartend.
Am Pumpenhäuschen am Dorfeingang ein zerschlissenes Plakat, das zum freiwilligen Arbeitsdienst in Deutschland aufrief: Sie geben ihr Blut, gebt ihnen eure Arbeit, um Europa vor dem Bolschewismus zu retten. Keiner will sich melden, Vichy ordnet den Obligatorischen Arbeitsdienst jenseits des Rheins an. Junge Leute verschwinden plötzlich, setzen sich in den Maquis ab, lösen sich in Wäldern und Ställen auf, auf Heuböden und in abgelegenen Scheunen. Freiwillig? Ein schlechter Witz. Die Plakate werden von einer raschen Bauernhand im Vorbeigehen abgerissen.
Ein Maler rollt durch Dörfer, die nie von ihm gehört haben. Einen runden Tag dauert die Fahrt, vierundzwanzig Stunden heißt die schiere Ewigkeit. Dem Gott der Umwege wird ein endloses Opfer gebracht, bis er vor Überdruss ablehnt. Sie müssen ins Hauptstadtherz, aber durch die fernsten feinen Äderchen, auf Feldwegen fast, was hat ein Leichenwagen dort zu suchen zwischen Korn und Obstbäumen, jede Arterie meidend, wo sie sitzen konnten.
Niemand kennt den Weg. Keiner wird ihn je erfahren. Und was würde es nützen, die Dörfer und Weiler aufzuzählen, die kleinen Sträßchen, die Kurven und Abwege? Auch der Maler sieht den Weg nicht. Er liegt im halbdunklen Innern des Citroën, von grauen, gewellten Vorhängen geschützt. Nur sein Leben ruft noch einmal aus den flackernden Erinnerungen herauf in den gedämmten Schmerz, in die Fetzen der alten
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