Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
geleistet. Er hat versagt. Der Schmerz ist da. Nicht aus der Welt zu schaffen, deren Schöpfer sich mit den möglichen Schmerzmitteln aus dem Staub gemacht hat.
Der Einzige, der immer wieder aufersteht, ist der Schmerz. Er ist der dauernd auferstandene Gott, der auf seine Abschaffung wartet. Es gibt keinen Erlöser, es sei denn, in Form wirksamer Schmerzmittel. O heiliges Morphin, gebenedeit seist du unter den Gaben des Mohns!
Und Doktor Tennenbaum hatte einen irren, wahnsinnigen Blick, der Gerda plötzlich erschreckte.
Der im Leichenwagen nach Paris wankende Maler konnte den lallenden Doktor Tennenbaum nicht mehr verstehen. Aber seine Magenwand wollte ihm noch zuhören. Bald sah er nur noch seine Lippenbewegungen, kein Laut war mehr zu hören. Seine Stimme entschwand in ein fernes Amerika.
Soutines Magengeschwür verflucht Gott. Nur die Malerei wird die Schmerzen dieser Fahrt überstehen. Sertürner, der Morphinmessias, hat das Richtige erfunden. Die Schmerzblockade. Die Verhinderung der Weiterleitung an die Hauptstellen und Kontrollinstanzen, sanftes, durchtriebenes Verschweigen des Schmerzes. Ein Zeigefinger, der sich über ein Lippenpaar legt. Nicht weitersagen, nicht weiterleiten. Doch kurz ist seine Macht, sie dauert zwei, vielleicht drei, höchstens vier Stunden, dann muss der Messias wiederkommen. Lannegrace hatte Marie-Berthe das dunkelbraune Fläschchen mit der Tinktur zugesteckt. Es gab in Chinon nur wenig. Die Besatzer hatten noch die Schmerzmittel beschlagnahmt.
Wissen Sie, es fehlt uns an allem. Sie plündern selbst die Krankenhäuser, Verbandszeug, Operationsbesteck, Anästhesiemittel werden zusammengerafft. Wir können noch so betteln, wir bekommen kaum das Nötigste. Die werden die medizinische Beute im Osten brauchen. Haben Sie im Winter kein Radio gehört?
Radio Londres
hat immer wieder von dieser Stadt an der Wolga gesprochen, von einer Einkesselung, sogar von Kapitulation. Sie sind in Russland gestoppt worden, verstehen Sie? Wir haben gejubelt unter den sieben Bettdecken, als wir es hörten.
Der Morphinmessias fährt mit ihm im Leichenwagen, schließt ihm die Augen, flackert mit seinem trüben Licht im Bewusstsein des Malers. Er schickt Träume und den mürben Verlust des Zeitempfindens. Er weiß nicht, wo er ist, weiß nicht, was er ist. Der Maler sieht nicht die Landschaften, an denen er vorbeigleitet im schwarzen Citroën. Flache Landschaften nördlich der Loire, er brauchte andere, immerzu andere, um zu malen. Um nie wieder zu malen.
Ma-Be, wohin fahren wir? Nach Himbeerstadt? In die Pyrenäen? Wo liegt Paris? Norden ist Süden im Osten. Also doch Pyrenäen. In die Winterradrennbahn? In die Höllen-Passage, wo er 1929 gewohnt hat, zur Zeit des Börsenkrachs? Nie kann er an jene Adresse denken ohne zusammenzuzucken.
Passage d’Enfer
. Wo wird er ankommen? Wie oft ist er schon angekommen, in Minsk, in Wilna, Paris. Es spielt jetzt keine Rolle mehr. Alle kommen irgendwann an. Er muss nach Paris zur Operation, aber er fährt in seinem Kopf ganz klar in die Pyrenäen.
Die Hügel von Céret. Das Städtchen ist berühmt für seine Kirschen, die Korkindustrie, die Herstellung von Fässern und Sandalen. Der Kunsthändler Zborowski hat ihn 1919 nach Céret geschickt. Hinunter in das Mekka der Kubisten unweit der spanischen Grenze, Picasso und Braque haben hier ein paar Jahre vorher ihre Fußabdrücke hinterlassen. Soutine hasst ihre Bilder, aber seine Pinselstriche fühlen plötzlich die Anziehung, sie lenken ihn dorthin, wohin er nicht will, und er kann sich später nur im Verbrennen der Bilder von dieser Kraft befreien. Er hasst Céret, leidet drei Jahre lang Höllenqualen auf den Hügeln, die seine Bilder bannen müssen.
Zbo zahlt fünf Francs pro Tag, die kaum für die Farbtuben vom Kurzwarenhändler Sageloly reichen. Manchmal ein Brot, Roquefort-Käse für fünf Sous. Katalanisch wird gesprochen, er versteht die Einwohner nicht, ist wieder ein Fremder wie sechs Jahre zuvor, als er in Paris ankam. Und der Spitzname, der hinter seinem Rücken geflüstert wird, hat rasch an ihm geklebt:
el pintre brut
. Der schmutzige Maler.
Die Hügel von Céret.
Die Leinwände sind gepeinigte Schwestern der Landschaften. Farbe wie Lava, grün-orange-rot, aufgetragen voller Panik und Wut. Schwankende Häuser in der erschrockenen Landschaft, die Fenster sind Gespensteraugen. Verbogene Bäume wie Kraken mit Tentakeln. Sich aufbäumende Straßen. Einsturzstellen, windgepeitschte, aufgebuckelte, berstende
Weitere Kostenlose Bücher