Souvenirs
erklärt, was vorgefallen war. Sie hatte im Krankenhaus angerufen und vom Tod meiner Großmutter erfahren. Siehatte den Drang verspürt, zur Beerdigung zu kommen, die Ferien kamen gelegen. All das hatte sie auf eine ganz einfache Weise getan, sich keine Fragen gestellt. Und ich verspürte die gleiche Einfachheit: Ich war glücklich, weil sie da war, und versuchte, dieses Glück nicht zu ergründen. Ich konnte nur sagen, dass sie etwas schloss. Eine Lücke. Mir wurde klar, dass ich auf sie gewartet hatte (obwohl ich unfähig gewesen wäre, mein Verlangen nach ihr in Worte zu fassen), als ich sie sah.
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Erinnerungen des Mitarbeiters des Bestattungsdienstes, der die sterblichen Überreste meiner Großmutter von Le Havre nach Paris überführte
Der Mann gehorchte einer seltsamen Gesetzmäßigkeit: In Bestattungsdiensten tritt man gern in die Fußstapfen des Vaters. Seit Generationen beförderte die Familie Leichen und setzte sie bei. Als Kind hatte er oft Totengräber gespielt. Und sich zwischen den Särgen versteckt. Aber wenn jemand hereinkam, war er angehalten, ruhig zu sein. «Man muss die Trauer der Kunden respektieren», schärfte sein Vater ihm ein, wie eine erste Lektion, die es für den künftigen Beruf zu lernen galt. Er machte sich also ganz klein und beobachtete die Trauernden, die ein und aus gingen. Eine Frau blieb ihm im Gedächtnis haften, eine sehr schöne Frau,die auf grausame Weise ihren Mann verloren hatte. Er war beim Joggen von einem Auto überfahren worden. Sie war völlig am Boden zerstört. Sie weinte so heftig, als sie den Sarg aussuchen musste, dass sein Vater sie in die Arme nahm und fest an sich drückte. Dieser Anblick hatte ihn fasziniert als Kind. Die Frau war so schön. Er dachte in diesem Augenblick: «Was für ein toller Beruf.»
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Ich ging mit Louise, wir schlenderten zusammen die Friedhofsalleen entlang. Es war zu spüren, dass inmitten all der Toten ein Gefühl entsprang. Die Situation war einfach und friedlich, unsere Eintracht augenscheinlich. So oft hatte ich meinem Glück hinterhergejagt, mitunter verbissen, hatte versucht, Gemeinsamkeiten zwischen mir und dieser oder jener zu entdecken, doch all das erschien mir nun lächerlich, da ich verstand, dass die Liebe mit einem Gefühl der Klarheit einhergeht. Schweigsam saßen wir nebeneinander wie auf einem amerikanischen Bild der 1950er-Jahre. Ich bemühte mich nicht, die Pausen zu füllen, ich, der ich mich meist schon schuldig fühlte, wenn eine Unterhaltung auch nur ansatzweise stockte. Wir saßen auf einer Bank vor einem ungeschmückten Grab (der Tote war anscheinend nicht besonders beliebt). Ich weiß nicht, wie lange wir da saßen. Nach einer Weile beugte ich mich zu ihr hinüber undküsste sie. Ich hatte ein extremes Verlangen nach ihr. Ich mochte ihren Pferdeschwanz, die Art, wie ihr die Strähnen ins Gesicht fielen wie die letzten Funken eines Feuerwerks. Mein Herz pochte an ihren Lippen. Mich durchströmte die Fülle des Lebens. Und für einen kurzen Augenblick machte mein unverhoffter Glücksrausch mich glauben, die Toten dieses Friedhofs könnten alle wiederauferstehen.
Vor ein paar Monaten hatte ich einen Friedhof durchkämmt, auf der Suche nach einer jungen Frau, die ich nie wiedergefunden hatte, und nun küsste ich an gleicher Stelle eine andere. Ich fing an zu denken, dass ich anscheinend einen Riecher hatte für manche Dinge; der Riecher agierte zwar zeitlich verschoben, und man muss wohl festhalten, dass er die Fährte der falschen Personen aufnahm, aber was das Dekor anging, bewies ich recht erstaunliche riecherische Fähigkeiten. Wir hörten nicht auf, uns zu küssen, und ich wollte ihr auf der Stelle die Kleider vom Leibe reißen. Mich zwischen ihren Schenkeln auf und ab bewegen. Der Verfall um mich herum nährte meinen Lebenshunger. Louise musste mich für einen ausgesprochenen Draufgänger halten, dem es in diesem Augenblick vielleicht auch an Takt mangelte, aber mein Verlangen war wirklich brennend. Sie hatte einen Rock an, den es mich hochzuschieben drängte, doch der Anstand gebot mir, die Grenze ihrer Knie nicht zu überschreiten. Die Leute schauten uns an. Unvorstellbar, dass nur wenige Meter von hier soeben meine Großmutter beerdigt worden war. Die Leute mussten denken, wir seien Freunde eines Gothic-Fetisches, die hier ihre dunklen Spielchen trieben.
Ich musste ins Hotel. Ich hatte mich entschieden, am Abend wieder zu arbeiten, was ich nun bedauerte. Aber ich konnte meinen Chef nicht
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