Sozialisation: Weiblich - männlich?
ihrer Auffassung, daß dies eine biologische Ursache habe, sind sie etwas vorsichtiger. So weisen sie darauf hin, daß die Tatsache (woran sie im Gegensatz zu Tieger festhalten), daß höhere männliche Aggressivität im Kulturvergleich auch bei Kindern immer wieder festzustellen ist, keinen Beweis für eine biologische Ursache darstellt. Denn im Kulturvergleich sind Frauen regelmäßig für die Kinderversorgung zuständig, und das könnte für jede Kultur Anlaß geben, Mädchen zur Fürsorglichkeit und zur Überwindung unmittelbarer Aggressivität zu erziehen. Auch der Vergleich mit den Affen sowie die Forschungsdaten über Hormoneinflüsse beweisen noch nicht eine biologisch verursachte männliche Aggressivität, sondern regen nur dazu an, über die Möglichkeit nachzudenken.
Letztendlich ist die Kontroverse über die Ursachen einer stärker ausgeprägten männlichen Aggressivität beiderseits, bei Maccoby/Jacklin ebenso wie bei Tieger, durch die außerordentlich bornierte Sicht der Theorie sozialen Lernens bestimmt. Sie geht davon aus, daß alles Verhalten durch Nachahmung von Vorbildern sowie durch Verstärkung (Belohnung oder Bestrafung) gelernt wird. Diese Ansicht ist zwar ergänzt worden durch eine Theorie kognitiver Sozialisation, jedoch in einer Fassung, die die Selbstbelohnung entsprechend der Erkenntnis unwandelbarer Geschlechtsidentität als Weg der Verstärkung voraussetzt, was nach Ansicht von Kohlberg erst im Alter von 4 bis 6 Jahren anfangen kann. Aggressives Verhalten könnte nach dieser Ansicht nur dann ein gelerntes Verhalten sein, wenn Kinder es bei Vorbildern beobachten würden (wobei eben nicht nachgewiesen ist, daß Kleinkinder nur oder vorwiegend gleichgeschlechtliche Modelle imitieren), und wenn sie unterschiedlich nach Geschlecht für Aggressivität belohnt würden (oder sich selbst schon loben könnten nach dem Motto „da habe ich mich aber wie ein richtiger Junge verhalten“). Da solche Vorgänge bei 3-jährigen Kindern ausgesprochen unwahrscheinlich sind, fallen diese Autoren hilflos auf die Biologie zurück. In der Tat kann man die Aggressionsausbrüche von 3- bis 4-jährigen Kindern schwerlich als gesteuertes, gelerntes Verhalten betrachten. Zu offensichtlich ist die innere Überflutung, der Zusammenbruch der Verhaltenskontrolle unter dem massiven Druck der Gefühle.
Die Hilflosigkeit des orthodoxen Ansatzes sozialen Lernens zeigt sich in Maccoby/Jacklins Unfähigkeit, einen Zusammenhang zu sehen zwischen ihren Daten, daß Jungen häufiger körperlich gezüchtigt werden, und ihren Daten, daß sie häufiger selbst körperlich aggressiv werden
(Sherman
1975, S. 299). Sie nehmen alle theoretischen Ansätze nicht zur Kenntnis, die Unterschiede in der emotionalen
Bedeutung
von Gesellschaftsverhältnissen der Geschlechterungleichheit für Mädchen und Jungen analysieren (vgl. Teil III unten). Der Verweis auf die Biologie ist in diesem Fall nicht
aufgebaut
aus mehr oder weniger überzeugenden Indizien oder Beweisen, sondern dient als Lückenbüßer.
Damit ist dieser Überblick der einigermaßen belegten Unterschiede im Sozialverhalten und im emotionalen Verhalten abgeschlossen. Es sei nochmals ausdrücklich hervorgehoben, daß der Forschungsstand
keine
Unterstützung für die Ansichten hergibt, daß Mädchen geringeres Leistungsbestreben oder weniger Neugier hätten, daß ihr Selbstwertgefühl (zumindest bis zur Pubertät) allgemein geringer wäre, daß Mädchen abhängiger wären oder stärker an Personen interessiert, bzw. daß Mädchen insgesamt geselliger oder mehr an Beziehungen zu anderen orientiert wären als Jungen; auch Untersuchungen von Einfühlungsvermögen und von Hilfsbereitschaft ergeben im großen und ganzen keinen Unterschied nach Geschlecht. Als Unterschiede im Sozialcharakter zwischen Mädchen und Jungen bis zur Pubertät können wir nur feststellen, daß die durchschnittliche Häufigkeit aggressiven Verhaltens bei Jungen höher liegt, wobei nicht klar ist, ob dies auf das Konto eines kleinen Anteils von sehr aggressiven Jungen geht, oder ob die Mehrheit der Jungen aggressiver als die Mehrheit der Mädchen sind; daß Mädchen zwischen 2 und 5 Jahren den Erwachsenen eher gehorchen; und daß Mädchen ab 8 Jahren eher angeben, Ängste zu haben. Als Gruppe scheinen Jungen (etwa ab 6 Jahren) insgesamt Dominanz zu beanspruchen, es ist aber nicht eindeutig, ob und wie dies sich in Persönlichkeitsmerkmalen der einzelnen Kinder ausdrückt.
2.2 Unterschiede in kognitiven
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