Späte Familie
fällt schon die nächste Frage, riechst du etwas? Nichts Besonderes, antworte ich, warum? Sofort befürchte ich, mich nicht gut genug gewaschen zu haben, und er sagt, hier ist ein seltsamer Geruch, vielleicht nehmen wir einen anderen Tisch, und ich stehe widerwillig auf, meine Auswahl dieses Cafés steht schon auf dem Prüfstand, ich gehe, den Mantel und die Tasche in der Hand, hinter ihm her zu einem einsamen Ecktisch, die Tür fordert mich schon auf, durch sie hinauszulaufenin die Freiheit, aber ich setze mich gehorsam, beobachte das Beben seiner Nasenflügel. Hier ist es ein bisschen besser, entscheidet er, noch immer nicht ganz zufrieden, und erst dann wendet er sich mir zu und betrachtet mich prüfend, und ich senke die Augen auf die Speisekarte, wer weiÃ, wem ich gerade gegenübersitze und wer die Frau ist, mit der ich gegen meinen Willen konkurrieren muss, meine Lippen gegen ihre Lippen, meine Augen gegen ihre Augen, meine Brüste gegen ihre Brüste, und ich bestelle mir nur ein Glas Rotwein, obwohl ich Hunger habe, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich beim Anblick dieser unruhigen Nasenflügel und dieser prüfenden Augen etwas herunterbekomme. Es ist besser, dieses Treffen abzukürzen und zu Hause zu essen, beschlieÃe ich, aber es stellt sich heraus, dass er andere Pläne hat, er scheint gewillt, jedes Gericht auf der Karte zu bestellen, entweder um einen übermäÃigen Hunger zu stillen oder um das Zusammensein zu verlängern, sein Wille besiegt meinen, und mir wird klar, dass ich nicht nur hungrig bleiben werde, sondern ihm auch stundenlang beim Essen zuschauen muss, Suppe, Salat und blutiges Steak, roh, schreit er der Kellnerin nach, roh, ich liebe es roh, und er entblöÃt dabei seine scharfen Eckzähne, als wollte er selbst das blutige Fleischstück aus dem Körper des Tieres reiÃen.
Nachdem er die Speisekarte nach allem, was seine Gier noch erregen könnte, durchgegangen ist, richtet er seine kleinen Pupillen auf mich und bemüht sich endlich um ein freundschaftliches Lächeln, nun, was kannst du mir denn erzählen, fragt er, ohne eine Antwort abzuwarten, ich habe gedacht, du siehst anders aus, ich habe schon einige Archäologinnen getroffen, alle waren so energisch und grob, aber du bist zart, es klingt fast enttäuscht, gleich wird er mir noch sagen, du bist ein Wandbild, und ich frage kühl, für wasinteressierst du dich eigentlich, für Archäologie oder für Archäologinnen?
Für beides, sagt er und lacht vergnügt, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht, ich liebe die Verbindung, Ausgrabungen machen ist doch eine sehr erotische Tätigkeit, ist dir das noch nicht aufgefallen? Und ich sage, Ausgrabungen sind zerstörerisch, erst hinterher weià man, ob sie berechtigt waren oder nicht, ich will doch hoffen, dass Erotik weniger zerstörerisch ist, und ich nehme hochmütig einen Schluck Wein, schaue mich demonstrativ gelangweilt um. Dieser Aufsatz von dir, versucht er es weiter, und ich unterbreche ihn, ich habe viele Aufsätze veröffentlicht, welchen meinst du genau? Und er sagt, den über den Auszug aus Ãgypten, ich verstehe dich wirklich nicht, wie kannst du die Tatsache ignorieren, dass es für diese ganze Geschichte keinen einzigen Beweis gibt? Und ich sage, ich kenne all diese Argumente auswendig, auÃerdem glaube auch ich nicht, dass es sich um eine absolute historische Wahrheit handelt, ich behaupte in diesem Aufsatz nur, dass man unmöglich die ägyptischen Zeugnisse einer groÃen Naturkatastrophe ignorieren kann, Zeugnisse, die zu den Phänomenen passen, die in unseren Quellen erwähnt werden.
Genau die haben mich nicht überzeugt, sagt er, was haben die überhaupt miteinander zu tun? Und ich sage, Archäologie ist keine exakte Wissenschaft, sie lässt viel Raum für Interpretationen, heute ist es sehr leicht zu sagen, das sind alles Märchen, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass all jene dramatischen historischen Ereignisse nur Früchte der Fantasie sein sollen. Die Ankunft seiner Suppe unterbricht zu meiner Erleichterung unser Gespräch, und er fällt gierig über das Essen her, und wie erwartet, ist er auch mit der Suppe nicht zufrieden, der Brokkoli ist verkocht, stellt er fest und erklärt der Kellnerin ganz ernst, wenn man Brokkolizu lange kocht, wird er weich wie ein Putzlappen, und sie entschuldigt sich, wirklich? Bisher hat
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