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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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dies tut, desto größer ist die Chance, dass er doch noch in den Knast wandert.
    So funktioniert das System nun mal. Es werden nicht alle Bösewichte erwischt, und es werden auch nicht alle Unschuldigen verschont. Aber auf eine etwas holprige Art und Weise balanciert sich das System immer wieder selbst aus und bleibt zumindest ungefähr im Gleichgewicht.
    Und trotzdem hatte Andi kein gutes Gefühl bei der Sache. Schon eine einzige Ungerechtigkeit war eine zu viel, besonders, wenn es sich um ein Verbrechen wie Vergewaltigung handelte. Wenn sie nachts noch ruhig schlafen wollte, durfte sie sich emotional dennoch nicht zu sehr involvieren lassen – weder was den Mandanten noch was das mutmaßliche Opfer anging. Aber es war gar nicht so einfach, ihre Gefühle abzustellen.
    Sie hatte keine Ahnung, ob Claymore schuldig war oder nicht. Er redete wie ein Unschuldiger, selbst wenn er sich nur mit seinen Anwälten beriet. Trotzdem behauptete Bethel Newton beharrlich, dass er schuldig war. Auch die wissenschaftlichen Beweise deuteten weiterhin auf seine Schuld hin, wenn die Lage diesbezüglich auch nicht mehr ganz eindeutig war.
    Andi verdrängte ihre schmerzhaften Gedanken und nahm wieder ihre Umgebung wahr. Irgendwie war sie beim Krisenzentrum angekommen, ohne die Strecke dahin bewusst realisiert zu haben. Sie bog auf den Parkplatz hinter dem Gebäude ein und hoffte, dass sie keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet hatte.
    Eilig stieg sie aus dem Auto und ging zu dem Gebäude, in dem das Krisenzentrum untergebracht war. Ihre innere Anspannung ließ sich einfach nicht abschütteln. Am videoüberwachten Eingang wurde sie sofort von der bewaffneten Sicherheitsbeamtin erkannt, und die erste Panzerglastür ging mit einem Summen auf. Nachdem Andi die »Luftschleuse« betreten hatte, wie sie es in Gedanken nannte, öffnete die Sicherheitsfrau die innere Tür, um sie ins Gebäude zu lassen. Die beiden Frauen lächelten sich zu, bevor Andi nach oben in den ersten Stock ging.
    Nach wenigen Schritten hatte sie Genes Büro auf halber Höhe des breiten Flurs erreicht. Aber als sie durch das kleine, lukenförmige Türfenster spähte, um nachzusehen, ob Gene allein war, erlebte sie eine Überraschung. Denn in dem Zimmer stand ihre Freundin und redete mit ernster Miene auf Bethel Newton ein.

Mittwoch, 26. August 2009 – 21.30 Uhr
    Louis Manning lag in einem Einzelzimmer im Alta Bates Medical Center. Seine Hände waren mit Handschellen an das Seitenteil des Betts gekettet, und neben ihm saß rund um die Uhr ein uniformierter Polizist. Inzwischen hatte man offiziell wegen versuchter Vergewaltigung an Martine Yin Anklage gegen ihn erhoben, aber weil er noch immer nicht transportfähig war, war die Anklageverlesung verschoben worden. Sein gebrochenes Bein lag nach wie vor im Streckverband, aber zumindest hatte er ein Einzelzimmer.
    Er lächelte über die Ironie, dass ihm als Straftäter eine bessere medizinische Versorgung zuteilwurde, als er sie je zuvor genossen hatte. Sein Bein war inzwischen gut genug abgeheilt, dass er bei der nächstbesten Gelegenheit die Flucht ergreifen konnte. Die Frage war nur, wann sich diese Gelegenheit ergab. Er war zwar zuversichtlich, dass er sich humpelnd fortbewegen konnte, aber rennen konnte er definitiv noch nicht.
    Weil er nur für die Mahlzeiten von seinen Handschellen befreit wurde, konnte er nicht abhauen, wenn der Polizist neben seinem Bett hin und wieder kurzzeitig das Zimmer verließ.
    Er hatte also andere Möglichkeiten erwogen, zum Beispiel die, dem Beamten eine Spritze ins Auge zu stechen und ihm dann die Schlüssel für die Handschellen zu entreißen. Manchmal hatte er eine Spritze in Reichweite, zum Beispiel wenn Schmerzmittel in den Beutel seines Tropfs injiziert wurden. Aber er hatte die Idee aus zwei Gründen wieder verworfen. Erstens war während dieses Prozesses immer eine Schwester oder ein Arzt in der Nähe, und nur selten ließ jemand die Spritze im Beutel stecken. Und zweitens hätten die Schmerzensschreie des Polizisten sicher für Aufruhr gesorgt und seine Flucht erschwert. Angesichts der Tatsache, dass er vielleicht gar nicht gehen, sondern nur humpeln konnte, durfte er bei seiner Flucht auf keinen Fall die Aufmerksamkeit des Klinikpersonals auf sich ziehen.
    Also arbeitete er an einem anderen Plan. Weil in Krankenhäusern auch nachts ständiger Trubel herrscht, bekamen sämtliche Patienten abends ein Schlafmittel, das oral verabreicht wurde. Seit einigen Tagen schluckte Manning

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