Späte Schuld
und ihn gedemütigt, indem sie ihm Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte. Und sie hatte dafür gesorgt, dass die Polizei zum Tatort gerast war und ihn mit dem Streifenwagen gerammt hatte, so dass er jetzt ein gebrochenes Bein hatte.
»Hören Sie, ich bin heute Abend mit Martine verabredet. Ich rufe sie jetzt sofort in ihrem Hotel an und sage ihr, dass sie aufpassen soll.«
»Gut, aber halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Ich will nicht, dass noch jemand verletzt wird, weil ich …«
Er wusste, warum sie den Satz nicht beendete. Sie fühlte sich schuldig, weil sie glaubte, das alles überhaupt erst ausgelöst zu haben – was in gewisser Hinsicht ja auch stimmte.
»Okay. Sobald ich mit ihr gesprochen habe, rufe ich Sie zurück. Sind Sie unter der Nummer zu erreichen, die ich auf dem Display habe?«
»Ja. Ich warte neben dem Telefon.«
Mittwoch, 2. September 2009 – 18.40 Uhr
Andi fuhr auf der Drumm Street nach Norden in Richtung Sacramento Street. Vor ihr auf dem Armaturenbrett lag ein Zettel, auf dem in einer fremden Handschrift stand: »Golden Gate Bridge, Sonnenuntergang. Die Wahrheit wird dich erlösen.«
An der Washington Street bog sie rechts ab und warf einen flüchtigen Blick auf die grünen Wände der Tennisplätze zu ihrer Linken. In der Mitte der Straße verlief ein Grasstreifen mit Bäumen. Hinter ihr ging zwar bereits die Sonne unter, aber ihr blieb noch ungefähr eine Stunde, bis sie hinterm Horizont verschwunden war. Und danach würde es eine weitere Stunde dauern, bis es vollkommen dunkel war.
Andi fuhr gemächlich dahin, aber durch ihren Kopf ratterten in schneller Abfolge Gedanken der Wut, Schuld und Rache. Neben ihr auf dem Beifahrersitz lag die Wodkaflasche, aber sie fuhr keine Schlangenlinien. Vielleicht hielten die Cops sie ja trotzdem an, vielleicht aber auch nicht. Ihr war es egal.
Sie fuhr jetzt Richtung Osten und steuerte auf die Embarcadero-Kreuzung zu. Richtung Süden sah es nach Stau aus. Ihr fiel ein, dass heute ein Baseballspiel war, die Giants spielten zu Hause gegen die Dodgers.
Sportliche Rivalitäten. Sie lösten noch mehr Wut in den Menschen aus als Politik oder Religion. Schon seltsam, wie die Menschheit tickte. Wenn sie keine Kriege zu führen hatte, erfand sie eben einen anderen Grund für Hass und Streit. Als ob es nicht schon genug Schmerz und Leid auf der Welt gegeben hätte. Vielleicht hatten es die meisten Leute einfach zu leicht. Nur so konnte man auf die Idee kommen, über derart belanglose Dinge zu streiten.
Das Einzige, was die Menschen wirklich auf die Straße und die Barrikaden hätte bringen müssen, waren Ungerechtigkeiten. Aber zu Straßenaufständen kam es heute kaum noch. Amerikas flackernde Wut auf sich selbst war bereits in Andis Kindheit erloschen. Was nicht hieß, dass das Land mit sich im Reinen war. Es war schlicht und ergreifend seiner eigenen Selbstgefälligkeit aufgesessen. In diesem Land war kein Platz mehr für Menschen, die leidenschaftlich für Gerechtigkeit kämpften.
Als Andi die Kreuzung erreichte, schaltete die Ampel gerade von Grün auf Gelb. Im Abbiegen sah sie das rote Licht aufleuchten, während hinter ihr ein grauer Lieferwagen angeschossen kam, der es ebenfalls noch über die Kreuzung schaffen wollte. Wenn Andi mehr Gas gegeben hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen, aber der Alkohol und die Tabletten hatten ihr Urteilsvermögen getrübt. Statt schnell und aggressiv zu fahren, fuhr sie langsam und passiv – und ahnte nichts von der Gefahr.
Der Verkehr Richtung Süden, wo das Baseballstadion lag, war inzwischen zu einer langen Schlange angewachsen, weshalb die Fahrer ungeduldig Gas gaben, als die Ampel endlich auf Grün sprang. Es war also nicht verwunderlich, dass ein anfahrender Bus den grauen Lieferwagen rammte und ihn zur Seite schleuderte, bis er rutschend zum Stehen kam und die perfekte Angriffsfläche für den Verkehr bot, der sich auf dem Embarcadero Richtung Süden schob.
Eine Sekunde lang blieb alles still. Dann hörte Andi, die nur einen Teil der Ereignisse mit einem raschen Seitenblick erfasst hatte, ein gewaltiges Scheppern. Während sie sich unversehrt in den nach Norden fließenden Verkehr einreihte, schoben sich hinter ihr die Autos zu einer Massenkarambolage zusammen, die sich schnell über die gesamte Kreuzung ausbreitete.
Mittwoch, 2. September 2009 – 18.45 Uhr
Martine saß im Bademantel auf dem Bett und föhnte sich die Haare, weshalb sie das Klopfen an der Tür beinahe überhört
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