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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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hätte.
    »Wer ist da?«, rief sie und hielt den Föhn ein Stück vom Körper weg, allerdings ohne ihn auszuschalten.
    So war alles, was sie von der gedämpften Stimme mitbekam, ein undeutliches »iss«. Sie schaltete den Föhn aus.
    »Wie bitte?«
    »Zimmerservice!«
    »Ich habe nichts bestellt.«
    »Ich lasse das Tablett vor der Tür stehen.«
    Sie hörte das leise Geräusch sich entfernender Schritte.
    »Nein, Sie haben mich falsch verstanden! Ich sagte, ich habe nichts bestellt!«
    Sie wartete auf eine Antwort, aber es kam keine.
    Was für ein Schwachkopf.
    Sie ging zur Tür und spähte durch den Spion. Es war niemand zu sehen. Aber neben der Tür stand eindeutig ein Tablett mit einem abgedeckten Teller, einer Kaffeekanne und einer Tasse. Wütend riss sie die Tür auf. Weil das Essen vermutlich für einen anderen Hotelgast gedacht war, blickte sie in beide Richtungen, aber von dem Kellner war nichts mehr zu sehen. Direkt neben ihrem Zimmer bog ein weiterer Gang ab, und für einen kurzen Moment glaubte sie dort eine Bewegung wahrzunehmen.
    Aber noch bevor sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, klingelte ihr Handy. Das irrtümlich bei ihr abgelieferte Tablett würde warten müssen. Sie drehte sich um und ging ins Zimmer zurück. Kurz bevor die Tür hinter ihr zufiel, schlüpfte jemand mit einer raschen Bewegung ins Zimmer und stieß Martine unsanft aufs Bett.
    Als sie sich herumrollte, um sich zu verteidigen, sah sie Louis Manning, der mit einem bedrohlichen Lächeln näher kam.

Mittwoch, 2. September 2009 – 18.50 Uhr
    Claymore steckte auf der Washington Street im Stau. Irgendetwas musste vor ihm auf der Embarcadero-Kreuzung passiert sein, aber er konnte nicht sehen, was es war. Jetzt verfluchte er sich dafür, dass er nicht den Broadway genommen hatte. Aber zum Umkehren war es zu spät, denn auch hinter ihm staute sich inzwischen der Verkehr. Es gab kein Entrinnen, bis sich vor ihm endlich etwas bewegte – und er hatte keine Ahnung, wann das sein würde.
    Die Sorge um Andi ließ ihm keine Ruhe. Um Gene machte er sich weniger Gedanken. Sie war stark. Wie verletzlich sie im Gerichtssaal auch gewirkt haben mochte, sie besaß die nötige innere Stärke, um wieder auf die Beine zu kommen.
    Aber Andi nicht. Andi war schwach. Das hatte er im Laufe der zweieinhalb Wochen, die der Prozess gedauert hatte, gemerkt. Und nach allem, was Gene ihm erzählt hatte, war er ganz allein für diese innere Schwäche verantwortlich.
    Von Nietzsche stammte der Spruch: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.« Aber das traf nicht auf jeden zu. Die brutalen Erziehungsmethoden eines tyrannischen Vaters härteten den ersten Sohn vielleicht ab, aber den zweiten machten sie zum Schwächling. Andi konnte vor Gericht umwerfend überzeugende Auftritte hinlegen, aber danach brach sie jedes Mal innerlich zusammen. Das hatte er schon bei der Vorvernehmung der Geschworenen beobachtet, als sie nach dem Streitgespräch mit Alex einen völlig niedergeschmetterten Eindruck gemacht hatte. Auch nachdem sie Bethel Newton im Zeugenstand auseinandergenommen hatte, war sie in Tränen ausgebrochen. Und sogar nach ihrem Kreuzverhör von Albert Carter war ein Anflug von Kummer auf ihrem Gesicht zu sehen gewesen. Claymore zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich für das, was sie ihrer Lebensgefährtin vor Gericht angetan hatte, unendlich schuldig fühlte.
    Genes Worte ließen ihm keine Ruhe: »Sie saß während des ganzen Prozesses neben dir und hatte nicht mehr die leiseste Erinnerung daran, dass du sie vor fünfundzwanzig Jahren brutal vergewaltigt hast.«
    Sie hatte ihren Schmerz fest in ihrem Inneren eingeschlossen, genau wie Gene es viele Jahre lang getan hatte. Aber jetzt hatte Gene den Korken gezogen und alles herausgelassen. Hatte sie den Korken für sie beide gezogen? War auch Andis Schmerz an die Oberfläche getreten?
    Er musste es herausfinden, schließlich war er dafür verantwortlich. Aber im Moment war er vollkommen machtlos, weil sich der Verkehr vor seiner Nase nicht einen Zentimeter vom Fleck bewegte.
    Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer, von der ihm die SMS geschickt worden war. Vielleicht konnte er die Absenderin ja irgendwie zur Vernunft bringen.
    Aber es nahm niemand ab.

Mittwoch, 2. September 2009 – 18.55 Uhr
    Alex rief Gene an, die fast sofort den Hörer abnahm.
    »Hallo, Gene, hier ist Alex. Ich habe inzwischen mehrmals versucht, Martine zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon.«
    »Denken

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