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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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du das?«, fragte Gene mit gezügelter Anteilnahme. Sie unterstützte Selbstmitleid grundsätzlich nicht, erlebte sie doch bei ihrer Arbeit oft genug, was für eine selbstzerstörerische Kraft dadurch freigesetzt werden konnte. Selbstzerstörerisch und durch und durch verführerisch.
    Andi attackierte ihr Essen mit einer derartigen Wut, dass Gene lächeln musste. Andi war also nicht dem Fluch der Kapitulation erlegen, sondern bewies Kampfgeist, und das war ein gutes Zeichen. Sie kriegte sich bestimmt im Handumdrehen wieder ein.
    »Für was bitte haben wir in New York alles hinter uns gelassen und sind hierhergezogen? Und so was nennen die Abteilung ! Nichts als ein bedeutungsloser Titel.«
    »Gib ihnen eine Chance, Süße. Das war schließlich dein erster Arbeitstag. Warten wir ab, welche Aufgaben sie dir anvertrauen.«
    Gene versuchte, beruhigend und bestärkend auf Andi einzuwirken, weil sie wusste, dass sie genau das von ihr erwartete. Dieses Spiel spielten sie häufiger: Andi zickte herum und beschwerte sich über das Leben, und Gene holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.
    »Irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, fuhr Andi fort. »Eigentlich bin ich hergekommen, um möglichst schnell Partnerin zu werden, und jetzt habe ich noch nicht mal mein eigenes Büro. Die haben mich in eine bessere Besenkammer gesteckt!«
    Gene berührte sanft Andis Unterarm. »Das ist sicher nur vorübergehend.«
    Ein paar Sekunden lang aßen sie schweigend weiter. Andi war nach wie vor eingeschnappt, und Gene ließ sie in Ruhe. Wenn sie es vorzog, noch ein Weilchen zu schmollen, dann war das ihre Sache. Ich kann nicht ständig ihre Mutter spielen.
    Schließlich war es Andi, die das Schweigen brach und das Thema wechselte: »Wie war eigentlich dein erster Tag?«
    Gene machte plötzlich einen aufgebrachten Eindruck. » Mein erster Tag? Was? Im Krisenzentrum? Ziemlich hektisch. Aber das bin ich ja eigentlich gewohnt.«
    »Habt ihr zu wenig Leute?«
    Andi wusste genau, dass es zu wenig Personal gab. In Krisenzentren für Vergewaltigungsopfer herrschte grundsätzlich ein chronischer Mitarbeitermangel, was noch durch die geringe Bezahlung verschärft wurde.
    »Zu wenig Leute, zu wenig Anerkennung«, antwortete Gene. »Jeder wettert gegen Verbrechen, aber den Leuten ist es wichtiger, den Täter zu bestrafen, als dem Opfer bei der Überwindung seines Traumas zu helfen. Wozu noch groß dem Opfer helfen, wenn Rache doch viel einfacher ist? Die amerikanische Methode.«
    Dass das unfair war, wussten sie beide. Sie selbst kannten den Wunsch, sich zu rächen, nur zu gut. Aber es war schon irgendwie seltsam, dass Waffen bei den Menschen immer mehr zählten als Verbände.
    »Dich beschäftigt doch irgendwas.« Andis Stimme klang sanft und teilnahmsvoll. Spontane Rollenwechsel mitten im Gespräch waren typisch für ihre Beziehung.
    »Heute Morgen hatte ich einen Fall …«
    Gene brach ab, aber Andi konnte den Rest des Satzes aus ihrem Schweigen herauslesen.
    »Haben sie dich also gleich kopfüber ins kalte Wasser geworfen.« Genau das hatte sich Andi an ihrem neuen Arbeitsplatz ebenfalls erhofft. Aber es hatte nicht sein sollen. Stattdessen war Gene dieses zweifelhafte Privileg zuteilgeworden.
    »Was hast du denn erwartet? Wie gesagt, wir haben zu wenig Leute.«
    Andi legte ihrer Freundin sanft die Hand auf den nackten Unterarm. »Was macht dich so wütend? Du hast das doch alles schon tausendmal erlebt und weißt, wie der Hase läuft.«
    Ein gequälter Ausdruck huschte über Genes Gesicht. » Das habe ich allerdings schon erlebt«, murmelte sie verbittert. »Genau die Art von Fall, über die sich die Fernsehkommentatoren den Mund zerreißen werden. Feminismus kontra Rassenpolitik. Weiße junge Frau wird von schwarzem Mann vergewaltigt.«
    Andi, die gerade an ihrem Orangensaft genippt hatte, schluckte und stellte das Glas ab. »Klingt nach einem gefundenen Fressen für die Presse. Wird bestimmt wieder so ein Schwarzenrechte-kontra-Frauenrechte-Zirkus.«
    »Bei dem die Verteidigung – Überraschung! – den Geist der Scottsboro-Jungs heraufbeschwören und die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten alles vor den Latz knallen wird, was ihr zum Thema einfällt, von Mike Tyson bis O.J. Simpson.«
    Andi nickte mitleidig.
    »Und zwischen den Fronten ein verängstigtes junges Mädchen, das keine zwanzig Jahre alt ist.«
    »Meinst du, du kommst damit klar?«
    »Oh, ich komme wunderbar damit klar. Ist ja nicht das erste Mal. Die Frage ist,

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