Späte Schuld
ob das Opfer damit klarkommt.«
»Und? Kommt es damit klar?«
Gene schüttelte traurig den Kopf. »Sie hat keine Ahnung, auf was sie sich da einlässt.«
»Gibt es einen Verdächtigen?«
»Ja.«
»Hat sie ihn identifiziert?«
»Ja. Aber sie haben ihn wieder laufen lassen, bis die DNA-Ergebnisse da sind.«
Andi setzte sich aufrecht hin, teils neugierig, teils besorgt. Sie kannte Gene lange genug, um die Nuancen in ihrer Wortwahl und ihrem Tonfall wahrzunehmen.
»Wenn sie ihn identifiziert hat, ist sie vielleicht zäher, als du denkst.«
»Sie ist nicht zäh. Sie ist nur naiv. Ihr ist nicht klar, dass sie den Kopf hinhalten muss für zwei Jahrhunderte Rassenverfolgung.«
Samstag, 6. Juni 2009 – 11.00 Uhr
Albert Carter war ein alter Mann. Kein weiser alter Mann, kein mürrischer alter Mann, nicht mal ein gebrechlicher alter Mann, nur ein alter Mann, der in seinem langen Leben einiges erlebt hatte. Gesundheitlich stand es nicht zum Besten um ihn, weil er das Rauchen und Trinken erst aufgegeben hatte, als ihm aufgefallen war, wie träge er dadurch wurde. Seine erste Frau hatte er durch Scheidung verloren und die zweite an den Tod. Albert Carter war ein einsamer alter Mann.
Oh ja, der Tod.
Er hatte viele Gesichter, und Albert Carter konnte den Namen der Krankheit, die Hildegard dahingerafft hatte, nicht einmal aussprechen .
Seine Kinder lebten noch, wohnten aber beruflich bedingt weiter weg. Er sah sie an Weihnachten und an seinem Geburtstag, und das war es dann auch schon. Sein Sohn lebte in Utah und war Marktleiter, und seine Tochter in Boston machte irgendetwas an der Uni. Er verstand die Arbeit seines Sohnes besser als die seiner Tochter, aber beide hatten Familie und kamen nicht besonders oft an die Westküste.
Also verbrachte er seine Tage damit fernzusehen, Zeitung zu lesen und mit seinen alten Freunden Bowling zu spielen, was allerdings immer seltener vorkam. Er befand sich in einem öden, von ständigen Wiederholungen geprägten Kapitel am Ende seines Lebensbuches, aber wenigstens hatte er das Nötigste zum Leben. Mehr brauchte er nicht. Das Einzige, was er sich wünschte, waren weniger Gelenkschmerzen. Oh, und dass die Polizei endlich etwas gegen diese Banden unternahm, die das Viertel in einen so unangenehmen Ort verwandelt hatten. Er wusste genau, wer diese Typen waren … allgemein gesprochen zumindest.
Eines Abends saß er wieder einmal allein vor dem Fernseher und sah sich einen Bericht über den Vergewaltigungsfall Bethel Newton an, in dem es hieß, ein berühmter Talkmaster aus der Gegend sei verhaftet und wieder entlassen worden. Es waren keine Aufnahmen von der Verhaftung zu sehen, nur ein Foto des Mädchens und Archivmaterial aus der Talkshow des Mannes. Offenbar hatte man ihn direkt nach der Aufzeichnung der letzten Sendung festgenommen, die noch gar nicht ausgestrahlt worden war.
Carter hatte plötzlich dieses komische Gefühl.
Er konnte sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern – es war alles viel zu schnell gegangen. Aber eines wusste er noch ganz genau.
Ihm fiel ein, dass Verbrecher manchmal Rache an Personen üben, die sie bei der Polizei verpfeifen. Er zögerte einen Moment, aber dann dachte er daran, wie oft er über diese Feiglinge schimpfte, die nicht den Mund aufmachten, wenn Kriminelle ihr Viertel zerstörten. So wollte er nicht sein. Es war seine Pflicht als Bürger, sich zu melden, das war ihm jetzt klar. Auf keinen Fall wollte er so sein wie diese Drückeberger.
Also stemmte er die müden Knochen aus seinem gemütlichen, abgewetzten, staubigen Sessel und schleppte sich zum Telefon.
Freitag, 12. Juni 2009 – 09.40 Uhr
Detective Bridget Riley war Opferbetreuerin, keine Anwältin. Sie war das wichtigste Bindeglied zwischen den ermittelnden Beamten und dem Vergewaltigungsopfer. Die Detectives, die den Fall bearbeiteten, stellten ihre Fragen hauptsächlich durch sie. Wenn sie das Opfer doch einmal direkt befragen mussten oder andere Personen mit ihm in Kontakt traten, zum Beispiel während der medizinischen Untersuchung, war die Opferbetreuerin stets anwesend.
Bridget Riley sah sportlich aus, athletisch, zäh wie eine Kickboxerin. Ihre männlichen Kollegen fanden sie attraktiv, und mit ihrem Gesicht, das einen reizvollen hellen Kontrast zu ihrem rabenschwarzen Haar bildete, hätte sie auch als Model arbeiten können. Aber was in der Unterhaltungsindustrie ein Segen war, konnte im rauen Polizeimilieu ein echter Fluch sein.
Ihr Aussehen hatte Bridget schon oft zum
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