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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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dauerte, lernte Elias Claymore die schmerzhafte Lektion, dass seine vermeintliche Beschützerin diesen Männern, die da einfach in ihr Haus eingedrungen waren, vollkommen machtlos gegenüberstand.
    Und mit kindlicher Logik wusste er auch, warum. Sie war eine Frau, und Frauen waren schwächer als Männer. Von einer Frau konnte man nicht erwarten, dass sie einen beschützte. Also mussten die Männer stark sein und ihre Frauen beschützen … oder sie vergewaltigen. So war es überall im Ghetto. Er beobachtete die örtlichen Zuhälter dabei, wie sie ihre Mädchen mit Ohrfeigen gefügig machten, und lernte schnell, dass das der natürliche Lauf der Dinge war. Es war normal, dass Männer Frauen herumkommandierten.
    Aber die Männer, die in sein Haus eindrangen und seine Mutter vergewaltigten, gehörten nicht hierher. Sie waren Fremde. Es waren die gleichen Schweine, die Schwarze verprügelten, nur weil sie schwarz waren, die ihn im Vorbeigehen »Nigger« nannten und ihm Angst einjagten, weil sie genau wussten, dass er ihr rassistisches Gespött nicht zu erwidern wagte. Und jetzt waren sie hier bei ihm zu Hause und taten seiner Mutter diese … diese Sache an.
    Dafür, dass sie schwach war, konnte er ihr nicht die Schuld geben. Aber sie war schuld daran, dass es keinen Mann gab, der sie und ihn beschützte. Weil sie ihn vertrieben hatte. Das hatte ihm sein Bruder erzählt. Sie hatte Elias’ Vater einen nichtsnutzigen betrunkenen Schmarotzer genannt und ihn aus dem Haus geworfen. Durch den Vorfall wurde ihm klar, wie dringend sie einen Mann im Haus brauchten … und dass es keinen gab, war ihre Schuld.
    Ihm ging auf, dass auch er eines Tages ein Mann sein würde. Erwürde groß und stark werden, und dann würden sie ja sehen! Denn dann war er in der Lage zurückzuschlagen … Und er würde sie dort treffen, wo es am meisten wehtat. Er würde ihre Schwachstelle treffen – ihre Frauen.
    Ein lautes, aggressives Klopfen an der Tür riss Claymore aus seinem traurigen Tagtraum.
    »Wer ist da?«, rief er.
    »Die Polizei. Wir haben einen Haftbefehl.«

Freitag, 12. Juni 2009 – 13.00 Uhr
    »Dieses Mal haben wir einen Zeugen«, sagte Lieutenant Kropf.
    »Und wen?«, fragte Alex.
    »Das werden Sie noch früh genug erfahren.«
    Alex war nach Claymores zweiter Verhaftung sofort von San Francisco nach Los Angeles geflogen, allerdings nicht ohne seinem Mandanten am Telefon eingeschärft zu haben, kein Wort zu sagen, bis er da war. Er wusste, dass die Cops es mit ihren üblichen Tricks versuchen würden. Sie erzählten ihren Verdächtigen zum Beispiel gern, dass man ihnen eher glaubte, wenn sie sofort reinen Tisch machten, ohne diesen ganzen »Anwaltskram«. Aber Alex hatte sich unmissverständlich ausgedrückt.
    »Fall bloß nicht auf die Masche rein«, hatte er Claymore gewarnt. »Es geht gar nicht darum, ob sie dir glauben, sondern darum, ob sie etwas gegen dich in der Hand haben. Die kommen bloß auf falsche Gedanken, wenn du mit ihnen redest. Bleib einfach cool und halte durch, bis ich da bin. Wenn sie nichts in der Hand haben, können sie auch nichts ausrichten. Und wenn sie glauben, sie hätten etwas in der Hand, kannst du ihnen das sowieso nicht ausreden.«
    »Was genau will dieser Zeuge denn gesehen haben?« Alex ging davon aus, dass die betreffende Person nicht einfach dagestanden und tatenlos eine Vergewaltigung beobachtet hatte.
    »Er hat Ihren Mandanten vom Tatort flüchten sehen«, antwortete Kropf und bereute es eine Sekunde später schon.
    Er.
    Alex stürzte sich sofort darauf. Der Zeuge war also ein Mann … oder ein Junge. Und er hatte Claymore oder einen ähnlich aussehenden Mann lediglich vom Tatort flüchten sehen und nicht die Vergewaltigung selbst beobachtet. Das war ein großer Unterschied.
    Kropf war außerdem herausgerutscht, dass der Zeuge Claymore bereits identifiziert hatte.
    »Moment mal. Sie haben doch wohl nicht ohne mein Beisein eine Gegenüberstellung durchgeführt?«
    »Mussten wir gar nicht«, sagte der Lieutenant. »Er hat Ihren Mandanten in den Nachrichten erkannt.«
    Bei Claymores erster Verhaftung war noch nicht von einem Zeugen die Rede gewesen. Und selbst wenn dieser mit der Identifizierung des flüchtenden Mannes richtiglag, woher wusste er, dass dieser Mann gerade ein Mädchen vergewaltigt hatte? Wenn er es gewusst hätte, hätte er dann nicht am Tatort bleiben, dem Opfer helfen und seinen Namen bei der Polizei hinterlassen müssen? Wäre dann nicht schon zum Zeitpunkt der ersten Verhaftung
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