Späte Schuld
Ziel sexueller Belästigungen seitens ihrer männlichen Kollegen gemacht, sie war also abgehärtet. Komplimente nahm sie mit einem schulterzuckenden Lächeln entgegen, und wenn die Avancen unter die Gürtellinie gingen, wehrte sie sich mit einem schlagfertigen »Träum weiter, Kleiner«.
Als einmal ein junger Polizeianwärter frech wurde und sie gegen einen Spind drängte, um vor seinen Freunden anzugeben, warnte sie ihn mit einem gut gezielten Fausthieb in die Leistengegend davor, weitere Dummheiten zu begehen. Dann vertiefte sie seine Schmach noch, indem sie fragte, ob sie pusten solle. Danach wurde sie nie wieder von Polizeianwärtern belästigt … und auch von sonst niemandem in der Dienststelle in den vier Jahren, die seither vergangen waren.
Bridget saß gerade an ihrem Schreibtisch und tippte einen Bericht über einen Fall von häuslicher Gewalt für Sarah Jensen von der Staatsanwaltschaft, als eine Polizistin ein Fax vor ihr auf den Tisch legte. Bridget blickte nicht von ihrer Arbeit auf.
Sarah Jensen war in der Staatsanwaltschaft von Ventura County für häusliche Gewalt zuständig und genauso fest entschlossen wie Bridget, die Schweinehunde dranzukriegen, die ihre Frauen oder Freundinnen schlugen. Aber Sarah Jensen war Realistin. Und sie war ehrgeizig. Sie wusste genau, dass abgewiesene Klagen dem Ruf der Abteilung schadeten und ihr persönlich eine schlechte Erfolgsbilanz verschafften. Bridget musste daher jeden einzelnen Satz sorgfältig formulieren, damit Sarah den Eindruck bekam, den Fall gewinnen zu können.
Als ihr Blick auf das Fax fiel, trat ein Leuchten in ihre Augen. Sie schnappte es sich und eilte aus dem Zimmer.
Freitag, 12. Juni 2009 – 10.30 Uhr
Elias Claymore saß in einem Liegestuhl auf der Terrasse seiner mediterranen Villa mit Meerblick und reflektierte darüber, dass ihm seine Vergehen und die anschließende Reue gute Dienste geleistet hatten. Seine jetzige Umgebung war jedenfalls Welten von der wackeligen, rattenverseuchten Ghettobehausung entfernt, in der er geboren und aufgewachsen war.
Die Villa befand sich in einer parkähnlichen Anlage an Montecitos prestigeträchtigstem Strand und bot aus fast jedem Zimmer atemberaubende Ausblicke auf das Meer. Das riesige Wohnzimmer mit Kamin und Bar hatte ebenso Meerblick wie die Küche und die zwei Schlafzimmer mit Kamin im ersten Stock. Lediglich das dritte Schlafzimmer lag auf der Rückseite. Sogar von Claymores Büro konnte man das Meer sehen. Außerdem gab es ein separates Gästeappartement, eine große Terrasse zum Meer hinaus, einen Wellnessbereich mit Blick auf den Sonnenuntergang, majestätische Bäume und gepflegte Blumenbeete und fünfundzwanzig Meter Privatstrand.
Aber wie weit war er wirklich gekommen?
»Man kann einen Menschen aus dem Ghetto holen«, höhnten die Rassisten gern, »aber nicht das Ghetto aus dem Menschen.« Und so sehr es sein geplagtes Gewissen auch schmerzte, in diesem Punkt hatten sie recht, ganz buchstäblich. Ein Ghetto ist ein Ort, in dem man von seinesgleichen umgeben und dennoch ständig von außen bedroht ist. Und Elias fühlte sich tatsächlich belagert.
Seine Gedanken wanderten zu seiner Vergangenheit zurück. Er hatte geglaubt, dass der Schmerz vorbei war. Natürlich würde er nie vergessen, was er getan hatte, aber er hatte geglaubt, dass es irgendwann aufhören würde, ihn zu quälen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten ihn eines Besseren belehrt. Der Schmerz war wieder da, eine schleppende, in die Länge gezogene Folter.
Er versuchte ihn zu lindern, indem er sich in Erinnerung rief, was ihn zu seinen Taten getrieben hatte, was ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er früher gewesen war. Mit neun Jahren hatte er mit ansehen müssen, wie seine Mutter von zwei weißen Polizisten vergewaltigt worden war. Er hatte versucht, die Männer daran zu hindern, aber einer hatte ihn gepackt, ihm den Arm auf den Rücken gedreht und ihn gezwungen zuzusehen, während der andere seine Mutter auf den Boden gepresst und ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte, um anschließend gewaltsam in sie einzudringen. Nie würde er vergessen, wie sie geschrien und um Gnade gefleht hatte.
Sie hatte Elias allein großgezogen, ohne männliche Hilfe, und als kleiner Junge war sie in seinen Augen eine starke Persönlichkeit gewesen, die Bestrafungen austeilte und ihn vor den größeren Kindern im Viertel beschützte. Aber sich selbst hatte sie nicht beschützen können. In den wenigen Minuten, die die Vergewaltigung
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