Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
Vom Netzwerk:
von einem Zeugen die Rede gewesen, und hätte man dann nicht gleich eine Gegenüberstellung mit Claymore veranlasst? Aber jetzt hieß es, der Mann hätte ihn in den Nachrichten gesehen und erkannt. Er war also nicht am Tatort geblieben.
    Warum nicht? Aus Angst? Wovor hätte er Angst haben sollen, wenn der Vergewaltiger doch bereits geflüchtet war? Hatte er befürchtet, in etwas hineingezogen zu werden? Oder hatte er etwa Angst vor der Polizei, weil er selbst etwas auf dem Kerbholz hatte? Hatte er wirklich etwas beobachtet? War er überhaupt vor Ort gewesen? Oder war er einer der vielen Trittbrettfahrer, die bei öffentlichkeitswirksamen Kriminalfällen regelmäßig aus den Löchern kriechen und auf schnelles Geld aus sind?
    »Kann ich seine Aussage sehen?«, fragte Alex.
    Falls Claymore angeklagt wurde, mussten sie ihm die Aussage irgendwann zeigen, aber zum jetzigen Zeitpunkt schuldeten sie ihm gar nichts, nicht einmal den Namen des Zeugen.
    »Die bekommen Sie von der Staatsanwaltschaft, zusammen mit dem Rest der vorlegepflichtigen Unterlagen.«
    Das klang nach Ärger. Offenbar hatte man bereits beschlossen, Claymore anzuklagen.
    »Und vermutlich geben Sie meinem Mandanten gar nicht erst die Chance zu erklären, was er dort getan hat?«
    »Was, Sie meinen, warum er zur Tatzeit am Tatort war, obwohl er vorher behauptet hat, zu Hause gewesen zu sein? Nein, die geben wir ihm tatsächlich nicht.«
    Alex ging auf, wie verzwickt die Situation war. Jetzt, wo es einen Zeugen gab, der Claymore am Tatort gesehen hatte, war die Polizei keineswegs verpflichtet, ihm überhaupt noch Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen. Sie konnte , aber sie musste nicht. Wenn es zur Anklage kam, blieb Claymore nichts anderes übrig, als sein Glück vor den Geschworenen zu versuchen.
    Die Tür ging auf, und Bridget betrat den Raum. Sie winkte den Lieutenant zu sich, zeigte ihm ein Blatt Papier und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Lieutenant nickte mit finsterer Miene. Alex hatte den Verdacht, dass die Szene gestellt war. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
    Der Lieutenant kehrte an den Tisch zurück. »Wollen Sie zuerst die guten oder die schlechten Neuigkeiten hören?«, fragte er Alex.
    »Spucken Sie’s einfach aus«, erwiderte dieser.
    »Wir haben gerade die Ergebnisse der DNA-Tests bekommen.«
    Alex vermutete, dass die Ergebnisse schon vor Claymores Verhaftung vorgelegen hatten. Die Polizei hatte ihn bestimmt nicht allein aufgrund der Zeugenaussage festgenommen, zumindest nicht, solange noch Testergebnisse ausstanden.
    »Und?«, fragte er angespannt.
    »Im Vaginalabstrich war keine fremde DNA vorhanden, weil der Vergewaltiger ein Kondom benutzt hat. Aber das Opfer hat ihn im Gesicht gekratzt, so dass wir eine vielversprechende DNA-Probe unter ihren Fingernägeln nehmen konnten. Wollen Sie das Ergebnis hören?«
    »Raus damit«, forderte ihn Alex auf, dem allmählich klar wurde, wohin dieses Gespräch führen würde.
    Der Lieutenant reichte Alex das Fax und beobachtete ihn gespannt. Aber Wut war das Einzige, was Alex beim Lesen verspürte – nicht auf Kropf, sondern auf seinen Mandanten. Als er Claymore das Fax zeigte, zeichnete sich Verwirrung auf dessen Gesicht ab … und Angst.

Freitag, 12. Juni 2009 – 14.30 Uhr
    »Euer Ehren«, schallte Alex Sedakas zuversichtliche Stimme durch den Gerichtssaal. »Mein Mandant ist zwar vorbestraft, aber seine letzte Verurteilung liegt über zwei Jahrzehnte zurück.«
    Sie befanden sich in Saal dreizehn des Gerichtsgebäudes von Ventura. Auch das Untersuchungsgefängnis, in dem Claymore inhaftiert war, befand sich in diesem Gebäude. Saal dreizehn war eng und vollgestellt mit Zuschauerbänken ohne Rückenlehnen und einem großen Käfig für die Inhaftierten. Da Alex’ Kanzlei in San Francisco war, hatte er noch nie in Ventura praktizieren müssen, aber er wusste, dass es eins der meistausgelasteten Gerichte des Landes war, ein Ort, an dem Anklageerhebungen, Verfahrensanträge und Berufungen von Angeklagten wie am Fließband abgehandelt wurden. Bei zweihundert Fällen pro Tag war Bequemlichkeit ein Luxus, den sich das Gericht schlicht nicht erlauben konnte.
    »Mr Claymore ist fest in der Gemeinde verwurzelt«, fuhr Alex fort. »Seit über zehn Jahren ist er ein absoluter Vorzeigebürger.«
    In Wahrheit war Alex längst nicht so zuversichtlich, wie er klang. Wegen Claymores Vorgeschichte schloss der zweite Haftbefehl explizit eine Freilassung auf Kaution aus. Das war ein aussagekräftiger
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher