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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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Hinweis auf die Richtung, in die der zuständige Richter tendierte. Alex hätte gern Berufung dagegen eingelegt, aber er wusste, dass sein Fundament wackelig bis nicht existent war. Es war wohl kaum unverhältnismäßig, einem Mann die Freilassung auf Kaution zu verwehren, der bereits einmal aus dem Gefängnis entflohen war und sich seiner Strafe mehrere Jahre entzogen hatte.
    Aber seine Ausbildung und Erfahrung als Prozessanwalt erlaubten es ihm, seine Zweifel zu verbergen – ja, verlangten es geradezu von ihm.
    Alex wandte sich also mit gemischten Gefühlen an den Richter. Und nicht nur an ihn, wie er genau wusste. Weil es sich um Claymores ersten Auftritt vor Gericht seit der Verhaftung handelte, war die öffentliche Aufmerksamkeit groß. Der Gerichtssaal war voll mit Reportern, was vorherzusehen gewesen war. Alex wusste, wie wichtig es war, seine Botschaft so schnell wie möglich unter die Leute zu bringen, um dem negativen Effekt von Claymores Vorgeschichte entgegenzuwirken.
    Dass die Medien seine Vergangenheit ausgruben, war unvermeidbar; die öffentliche Diskussion über die Fakten des Falls unterlag keinerlei Einschränkungen. Der Richter konnte zwar nach eigenem Ermessen Unterlassungsaufforderungen ausstellen, aber es gab diesbezüglich keine generelle gesetzliche Regelung.
    Nachdem sich Alex wieder gesetzt hatte, stand eine etwa vierzigjährige, durchschnittlich große Frau mit ordentlich frisierten pechschwarzen Haaren auf, um ihm zu widersprechen. Dabei handelte es sich um Sarah Jensen, Leiterin der Abteilung für häusliche Gewalt der hiesigen Staatsanwaltschaft. Alex hatte noch nie die Klingen mit ihr gekreuzt, aber ihr Ruf eilte ihr voraus. Manche Anklagevertreter sind streng, aber nicht gut. Andere sind gut, aber nicht streng. Sarah Jensen war beides.
    »Euer Ehren«, begann sie. In ihrer Stimme lag eine fast verächtliche Schärfe. »Elias Claymores kriminelle Vergangenheit ist hinlänglich bekannt. Die Verteidigung hat wohlweislich unterschlagen, dass er nicht nur sechs Frauen vergewaltigt hat, sondern nach seiner letzten Verurteilung auch noch aus dem Gefängnis entfloh und mehrere Jahre in Freiheit verbrachte. Schon aus diesem Grund ist die Fluchtgefahr als besonders hoch einzustufen.«
    Alex sprang auf. »Euer Ehren, die Staatsanwältin unterschlägt ihrerseits wohlweislich, dass mein Mandant freiwillig nach Amerika zurückgekehrt ist, um seine Strafe zu verbüßen.«
    Es war Alex gewesen, der damals als junger, lernbegieriger Juraabsolvent das Strafmaß für ihn ausgehandelt hatte.
    »Und inwiefern macht das die Tatsache wett, dass er geflohen ist?«, fragte der Richter und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
    Er stand kurz vor der Pensionierung und hatte schon so ziemlich jeden Unsinn gesehen oder gehört, auf den man als Anwalt kommen konnte. Daher wäre er höchst überrascht gewesen, einen neuen Kniff kennenzulernen – und sei es von einem alten Hasen wie Alex.
    »Weil dieses Ereignis zu einem späteren Zeitpunkt stattfand, Euer Ehren. Und bei der Beurteilung eines Charakters sollte das Gericht mehr Gewicht auf die unmittelbare als auf die fernere Vergangenheit des zu Beurteilenden legen.« Alex betonte die Schlüsselwörter seiner Aussage, weil er hoffte, den Richter so neurolinguistisch programmieren zu können.
    »Die Tatsache, dass er in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, um seine Strafe zu verbüßen, erfolgte also, nachdem er geflohen war?«
    »Ganz genau, Euer Ehren.«
    Der Richter kratzte sich mit gespielter Verwirrung am Kopf. »Verzeihen Sie mir die Anmerkung, Mr Sedaka, aber vor der Flucht hätte er ja auch nicht zurückkehren können .«
    Der Gerichtssaal brach vor Heiterkeit über die Witzelei des Richters in schallendes Gelächter aus, und Alex überkam der Frust eines Anwalts, der weiß, dass ihm ein harter Kampf mit einem feindlich gesinnten Richter bevorsteht – zumal dieser feindlich gesinnte Richter das Gesetz auf seiner Seite hatte.
    Die Zuschauer – unter ihnen auch viele Journalisten, die Wind von Claymores Verhaftung bekommen hatten – spürten, dass dies der Beginn eines Medienereignisses vom Rang eines O.J.-Simpson-Prozesses war.
    Sarah Jensen schüttelte den Kopf. »Euer Ehren, wenn ich an diesem Punkt etwas anmerken darf: Mr Claymores Rückkehr in die Vereinigten Staaten nach mehreren Jahren als Justizflüchtling ist keinesfalls dazu angetan, das Vertrauen in ihn wiederherzustellen. Er ist so lange weggeblieben, wie er konnte, und hat dann beschlossen,
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