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Späte Sühne - Island-Krimi

Späte Sühne - Island-Krimi

Titel: Späte Sühne - Island-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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geschehen musste, blieb unbeantwortet.«
    »Ich weiß, dass ihr alle Sunna sehr geliebt habt. Inwiefern war sie ein so außergewöhnlicher Mensch?«
    »Sie war meine beste Freundin.«
    »Erzähl mir mehr.«
    Rakel deutete auf eine gerahmte Zeichnung an der Wand. Das Blatt war vergilbt und wies Knicke auf, die beim Zusammenfalten entstanden sein mussten.
    »Dieses Bild von Sunna hat Fabían vor sehr, sehr langer Zeit gezeichnet, es ist das einzige, das wir besitzen.«
    Birkir trat näher an das Bild heran, das ein hübsches, Gitarre spielendes Mädchen zeigte.
    »Es ist viel besser, als ein Foto je hätte sein können«, fuhr Rakel fort. »Sunna schlief singend ein und wachte singend auf. Sie liebte das Leben, wie es nur junge Menschen tun. Sie hatte nie mit jemandem Streit, und sie söhnte alle aus, die bittere Gefühle hatten. Wir anderen haben uns bemüht, uns die Philosophie und die Lebensprinzipien der Hippies anzueignen, Sunna war ein Naturtalent. Sie stammte aus den dünn besiedelten Westfjorden. Sie brauchte niemanden zu imitieren, sie war einfach ein Blumenkind. Wir beide haben zusammen lange Wanderungen in der Umgebung von Sandgil unternommen, manchmal bis auf den Þórólfsfell hinauf. Von da aus konnte man bei schönem Wetter bis in die Þórsmörk sehen. Sunna liebte alles Schöne, Landschaft, Musik, Gedichte, Bilder.«
    »Hatte sie überhaupt keine Fehler?«, fragte Birkir.
    Rakel musste lächeln. »Sie hatte Angst vor Mäusen.«
    Das Lächeln verschwand, als Rakel hinzufügte: »Und vor Feuer.«

Dienstag, 20. Oktober
    06:20
    Birkir kam kurz nach zwölf nach Hause und schlief die ersten Stunden gut und tief. Gegen Morgen erwachte er aber plötzlich aus einem Albtraum, in dem der Sonnendichter ihn gepackt hatte und versuchte, ihn in einen übelriechenden Jutesack zu stopfen. Er dachte lange über den Traum nach, nicht weil er sich vor Jón fürchtete, sondern über den Geruch, den er wahrgenommen hatte. Es kam manchmal vor, dass er von Gerüchen träumte, die er nicht kannte. Sie konnten angenehm oder unangenehm sein, aber es war immer etwas, was er aus seinem täglichen Leben nicht kannte. Etwas aus seiner Kindheit, wahrscheinlich aus Vietnam. Er schloss die Augen, atmete durch die Nase ein und versuchte ein Bild heraufzubeschwören, das zu diesem Geruch passte, aber da kam nichts. Es schien, als gäbe es seit dem Tag, als er in das Flüchtlingslager in Malaysia gebracht worden war, eine Wand. Er konnte sich an nichts Zusammenhängendes aus der Zeit vorher erinnern. Nur unklare Gedankenfetzen, die aufblitzten, wenn er etwas erlebte, was diese Empfindungen in ihm hervorrief.
    Doch dann erinnerte er sich an die Arbeit, die im Büro auf ihn wartete, und er stand rasch auf. Es würde genug zu tun geben an diesem Tag, und je früher man das anpackte, desto besser. Er duschte kurz und rasierte sich. Unterdessen war das Wasser für den Tee heiß geworden, den er zu einer Schnitte Toastbrot mit Käse trank. Anschließend machte er sich auf den Weg.
    Auf seinem Schreibtisch lag ein Umschlag von Anna, in dem sich ein Foto von der Seite des Schreibblocks aus dem Jónshús befand. Anna hatte die älteren Kritzeleien entfernt, sodass jetzt nur das zu sehen war, was sich der Sonnendichter notiert hatte.

    Birkir überlegte angestrengt, was diese Zahlen bedeuten könnten, als Gunnar auf Krücken und mit der dicken, steifen Halsmanschette hereingehumpelt kam. Es kostete ihn einige Mühe und Zeit, sich auf dem Bürostuhl niederzulassen.
    »Meiner Meinung nach wärst du besser zu Hause geblieben«, sagte Birkir.
    »Ja, ja, ja, das hat Muttern auch gesagt.« Gunnar nieste und wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Verdammter Schnupfen«, entfuhr es ihm röchelnd.
    Birkir reichte Gunnar die Küchenrolle, die er tags zuvor für ihn besorgt hatte.
    »Danke«, sagte Gunnar und putzte sich die Nase. »Gibt’s was Neues?«
    Birkir reichte ihm das Blatt mit den Zahlen.
    »Bingozahlen«, war Gunnars Kommentar.
    »Meiner Meinung nach führen sie zu einem Ort«, sagte Birkir und berichtete, wie er zu diesem Bild gekommen war.
    »Ich muss passen«, sagte Gunnar. »Ich kann keinen Sinn darin erkennen.«
    Birkirs Telefon meldete sich, jemand rief vom Empfangsbüro aus an. »Hier ist eine Frau, die dich sprechen möchte«, sagte der wachhabende Beamte.
    Es war Rakel. Als Birkir das Empfangsbüro betrat, überreichte sie ihm einen Umschlag.
    »Ich habe heute meinen gewohnten Morgenspaziergang gemacht. Bei der Hallgrímskirche lauerte

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