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Späte Sühne - Island-Krimi

Späte Sühne - Island-Krimi

Titel: Späte Sühne - Island-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Jón mir auf, er weiß genau, welchen Weg ich gehe. Er sagte, unser Haus würde polizeilich überwacht, deswegen könne er nicht nach Hause kommen. Er hielt es auch für wahrscheinlich, dass das Telefon abgehört wird.«
    »Gut möglich«, sagte Birkir. Er wusste nicht, was der Polizeipräsident angeordnet hatte.
    »Jón hat mir diesen Umschlag gegeben«, fuhr Rakel fort. »Er bat mich darum, ihn zu dir zu bringen, und ich bin direkt hierher gekommen.«
    Birkir öffnete den Umschlag, in dem nichts als eine alte Kassette steckte.
    »Mehr weiß ich nicht darüber«, erklärte Rakel, »das schwöre ich. Nehmt es und hört es euch an, dann tut, was ihr tun müsst. Ich hoffe, dass ich wieder nach Hause darf, um mich um Fabían zu kümmern. Du kannst mich dort jederzeit erreichen.«
    Birkir nickte und sah ihr nach, als sie hinausging. Anschließend informierte er den Polizeipräsidenten, der gerade ins Haus gekommen war, über die Kassette.
    »Ich gehe davon aus, dass wir uns diese Aufnahme anhören sollen«, sagte Birkir. Er erklärte seinem Vorgesetzten, wie sie in seine Hände gelangt war.
    »Besitzen wir überhaupt noch so ein Kassettengerät?«, fragte der Polizeipräsident.
    »Das Radio im Kaffeeraum hat so ein Kassettendeck«, sagte Birkir.
    »Dann hören wir es uns dort an«, sagte der Polizeipräsident und stand auf. Im Kaffeeraum wurde es ziemlich eng, denn noch etliche andere Angehörige des Einsatzkommandos hatten sich ihnen angeschlossen.
    »Mein Name ist Arngrímur Esjar Ingason.« Arngrímurs Stimme klang zwar müde, war aber gut zu verstehen. »Am 4. April 1972 wurde ich als Bezirksamtmann im Rangárvellir-Bezirk vereidigt, und in dieser Funktion war ich bis zum 16. Februar 1975 tätig. Seit dem 5. Mai 1975 bin ich im diplomatischen Dienst.«
    Nach kurzem Schweigen fuhr Arngrímur fort: »Ich befinde mich in der Gewalt von gewissen Personen, die von mir verlangen, dass ich diese Erklärung abgebe. Auch wenn ich hierzu gezwungen worden bin, ist es doch eine Erleichterung, mich in einer Angelegenheit äußern zu können, die mein Gewissen vierunddreißig Jahre lang schwer belastet hat. Weshalb habe ich das nicht schon früher getan? Feigheit und Charakterschwäche haben mich davon abgehalten. Ich habe mir vielleicht die ganze Zeit einzureden versucht, dass ich für mein Fehlverhalten eher büßen könnte, wenn Schweigen über diesen Fall bewahrt würde. Aber damit ist es vorbei, die Wahrheit wird nun ans Licht kommen. Das ist auch mein eigener aufrichtiger Wunsch.
    In meiner Tätigkeit als Diplomat habe ich versucht, meinem Land und meinen Landsleuten immer nach besten Kräften zu dienen. Ich bin nicht nur tagsüber, sondern auch nachts im Einsatz gewesen, ich war immer zur Stelle, wenn jemand meine Hilfe brauchte. Ich habe versucht, Einfühlsamkeit und Anteilnahme zu zeigen. Ich habe versucht, ein guter Mensch zu sein. Alles in der Hoffnung, mir am letzten Tag meines Lebens sagen zu können: Ich habe in meinem Leben mehr Gutes als Böses getan. Aber blinde Leidenschaft und ein grauenvolles Unglück haben mehr Gewicht als alle guten Taten, die ein Mensch in einem langen Leben verrichten kann. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, Sühne für mein Fehlverhalten am Abend des 13. Februar 1975 zu leisten.
    Ich war etwas mehr als ein Jahr als Amtmann in Hvolsvöllur tätig gewesen, als im Sommer 1973 fünf junge Leute nach Sandgil zogen, Jón, Sunna, Helgi, Rakel und Fabían, und dort in dem alten Wohnhaus eine Hippiekommune gründeten. Zunächst habe ich mich einfach nur darüber amüsiert, dass sie sich da auf dem Land als Künstler durchschlagen wollten. Ich unternahm nichts, obwohl dafür wohl eine Genehmigung notwendig gewesen wäre. Freitagsnachmittags kam bei schönem Wetter Sunna mit ins Dorf, sie spielte Gitarre vor dem Genossenschaftsladen und sang dazu. Bald dachte ich mir immer neue Vorwände aus, um dabei zu sein, wenn diese schöne junge Frau dort stand und ihre Musik spielte. Ich schämte mich für die schäbigen Münzen, die die Leute zum Dank dafür in den Gitarrenkasten warfen, wobei sie sich auch noch für großzügig hielten. Ihre Musik war einmalig, weil sie von Herzen kam. Ich verliebte mich in dieses wunderbare Wesen. Sehr viel später ist mir klar geworden, dass uns Welten trennten. Der Altersunterschied spielte dabei wohl nicht die größte Rolle, viel eher aber die Tatsache, dass ich der Vertreter der Macht und des Systems war, von dem Sunna und ihre Freunde, die anderen Hippies,

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