Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Küche. Die vergangenen zehn und die folgenden zwei Tage waren durchgekreuzt. Fortbildung in Umeå, stand da in akkurater Mädchenhandschrift. Er riss den Kalender von der Wand. Die verdammte Ärztin war weg. Das Licht im Haus hatte nur dank einer digitalen Zeitschaltuhr gebrannt, er war umsonst gekommen, sein Besuch war sinnlos. Und jetzt? Er konnte ja wohl kaum bis ins gottverdammte Umeå fahren und einen Ärztekongress stürmen. Nein, er musste hier etwas finden, was ihn zu der dunklen Frau führte, einen Hinweis, eine Adresse, eine Telefonnummer, irgendwas. Er überlegte fieberhaft. Dann hob er den Kalender wieder auf.
Love Lindgren war eine gewissenhafte Frau. Zwei Tage vor ihrer Fortbildung gab es einen anderen Eintrag.
Mit M. zu Vortrag Frost, stand da. Daneben war ein kleiner Schmetterling gekritzelt. Der Abend im Schmetterlingshaus, bei dem er auch gewesen war, um dem Alten Angst einzujagen.
Und einen Tag davor: Ankunft M. 16.15 Uhr Arlanda, KLM. Daneben war ein Herz gezeichnet.
M .
Er merkte, wie sich sein Atem beschleunigte.
7
»Yad Vashem, bitte«, sagte Forss, als sie in das Taxi stieg.
Der Fahrer nickte. Er war vielleicht sechzig Jahre oder älter, auf dem Kopf trug er eine Kippa, keine von den grellen, poppigen, die sie gestern in dem Schaufenster der Fußgängerzone gesehen hatte, sondern eine schlichte, schwarze. Das Taxi raste durch die sandsteinfarbenen Straßen, bretterte über Kreuzungen, überholte, schnitt andere Autos, hupte, bremste, beschleunigte. Forss schleuderte auf der Rückbank hin und her, klammerte sich an ihren Griff über dem Fenster, nach einem Anschnallgurt hatte sie vergeblich gesucht. Sie sah hinaus: Jeder schien hier so zu fahren. Schnell, aggressiv, ohne Rücksicht auf den Nächsten. Der Fahrer bemerkte ihren Gesichtsausdruck und lachte.
»Sorry, aber das ist Jerusalem«, sagte er und bremste einen Motorroller aus, auf dem zwei junge Männer in Fußballklamotten saßen und den er vor Sekunden rechts überholt hatte.
»Sie wollen nach Yad Vashem? Besuchen Sie zum ersten Mal die Gedenkstätte?«
Forss nickte. »Ja«, sagte sie.
»Yad Vashem ist gut«, sagte er. Sein Englisch hatte eine osteuropäische Färbung. »Yad Vashem ist schrecklich, aber das muss es sein. Es ist gut, dass es Yad Vashem gibt. Es bedeutet: Denkmal und Name. Es gibt den Millionen Verlorenen ein Gedenken. Es gibt ihnen ihre Namen zurück.«
Das Taxi schraubte sich in Serpentinen einen Hügel hinauf. Die Sonne und der Dunst legten eine goldene Haube über die Stadt.
»Yad Vashem ist der Ort, an den ich gehe, wenn ich bei meiner Familie sein will«, sprach der Fahrer. »Es ist mein Zuhause. Es ist mein Israel. Wissen Sie, ich habe meine Eltern und meine Geschwister in den Lagern verloren. Keiner von ihnen hat eine Beerdigung bekommen, keiner ein Grab, keiner einen Grabstein, deswegen brauche ich Yad Vashem. Es ist der Grabstein, den ich besuche. Bei Jesaja steht: ›Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird.‹ Das ist der Grund für Yad Vashem.«
Das Taxi bremste abrupt. Forss wurde ein letztes Mal nach vorne geschleudert, dann stand das Taxi auf dem riesigen Parkplatz der Holocaust-Gedenkstätte.
Sie zahlte. »Danke«, sagte sie. Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie stieg aus.
»Hey«, rief der Fahrer durch das offene Fenster der Beifahrertür. »Woher kommen Sie, meine schöne Freundin?«Er lächelte.
»Ich?«, fragte Forss. »Aus ... Schweden.« Dann drehte sie sich um und ging auf das Besucherzentrum aus weißem Stein zu.
Yad Vashem war um ein Vielfaches größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Außer dem unterirdisch angelegten Museum zur Geschichte des Holocaust gab es zahlreiche Denkmäler, die Halle der Erinnerung, das Denkmal für die Kinder und die Halle der Namen . Es gab eine Synagoge, eine Bibliothek, ein Archiv und ein Kunstmuseum für Bilder, Zeichnungen und Skulpturen, die in den Konzentrationslagern entstanden waren. Neben den Gebäuden gab es verschiedene Außenanlagen, die Allee und der Garten der Gerechten unter den Völkern, das Denkmal zur Erinnerung an die Deportierten oder das Tal der Gemeinden. Forss brauchte lange, um sich zu orientieren, auch emotional. Gleichzeitig mit ihr betrat eine Kompanie israelischer Soldatinnen die Eingangshalle, und sie verlor sich minutenlang in einem Gewusel aus hundert
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