Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
jungen Frauen in grünen Overalls. Schließlich fand sie den richtigen Weg und betrat das Museum zur Geschichte des Holocaust .
Die Ausstellung war chronologisch geordnet und begann mit einer Darstellung des jüdischen Lebens in Deutschland und Europa vor 1933 und dem Zweiten Weltkrieg. Vom ersten Moment an zog sie die Ausstellung in ihren Bann. Die Videoinstallationen, Fotografien, Texttafeln, Exponate und Dokumente entwickelten eine Intensität, mit der sie nicht gerechnet hatte. Sie berührten etwas in ihr, das weit über das Begreifen hinausging. Natürlich hatte sich Forss schon mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt, in der Schule und darüber hinaus. Sie hatte Bücher gelesen, Filme gesehen, Ausstellungen besucht. Aber Yad Vashem war anders. Es war die Geschichte der Juden im Nationalsozialismus, erzählt von denen, die überlebt hatten. Yad Vashem war ein Perspektivwechsel. Nicht unbedingt inhaltlich, sondern emotional. Forss war aufgelöst, hilflos und fühlte sich ohnmächtig. Tief bewegt ging sie durch die Galerien. Die Ausstellung dokumentierte die Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland, den Zweiten Weltkrieg, die Deportation, die Gettos im Osten, schließlich die systematische Vernichtung in den Konzentrationslagern. Sie musste sich nicht zwingen hinzusehen, es geschah mit ihr. Fotos von Menschen, die wie Zweige aussahen, wie abgebrochenes, totes Holz. Dachau, Treblinka, Auschwitz. Das Ende der Menschlichkeit. Von Raum zu Raum wurde das Grauen größer, unfassbarer. In einer Halle waren die Vernichtungslager als Miniaturen nachgebaut, wie Modelleisenbahnen aus Metall gegossen: Todesfabriken in Spielzeuggröße. Forss dachte an ihren Großvater. Opa Friedrich, Mamas Vater, ein SA – Mann. Das passte in ihrem Kopf nicht zusammen. Und dennoch war es wahr, war es ein Teil ihrer Familiengeschichte.
Irgendwann setzte sie sich auf eine Bank, sie war unfähig, noch mehr aufzunehmen. Leute gingen an ihr vorbei, Zeit ging vorüber und ihr Kopf tat weh. Sie brauchte eine Schmerztablette, aber die war in ihrer Handtasche an der Garderobe. Deshalb stand sie wieder auf und ging weiter. Sie wollte einen Schluck kaltes Wasser. Gab es hier irgendwo Toiletten? Ihr Blick glitt über die Fotos und Vitrinen. Und da sah sie es.
Das war unmöglich.
Das konnte nicht sein.
Forss war ganz nah an die Vitrine getreten. Sie enthielt Spielzeug, das Insassen von Konzentrationslagern unter widrigsten Umständen für sich hergestellt hatten. Einen Kreisel, ein Puzzle, ein Schachspiel aus Papier. Auf dieses Schachspiel starrte Forss. Genau genommen auf die Figuren, die die vier Türme des Spiels repräsentierten. Es waren Würfel, gefaltet aus Papier. Die Wucht der Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag in den Magen. Sie erkannte die Falzungen, die Knicke wieder. Die Würfel waren genauso gefaltet wie der, den sie vor sieben Tagen in dem verlassenen Traktor im Wald gefunden hatte.
8
Er war aufgeregt, trotzdem zwang er sich, systematisch vorzugehen. Er blätterte Fotoalben und Adressbücher durch und fand alte Aufnahmen von der dunklen Frau und eine Telefonnummer mit einer Vorwahl in den Niederlanden. Dann kam er auf die Idee mit dem PC. Er hatte das Passwort des Computers beim fünften Versuch geknackt. Für ein Mitglied von Ärzte für Palästina war es nicht gerade originell: Free Gaza .
Es war noch keinen halben Tag her, dass jemand das Internet genutzt hatte. Der Verlauf der aufgerufenen Seiten verriet ihm alles, was er wissen musste.
Wie M . wirklich hieß.
Wohin M. aufgebrochen war.
Und wo er M. mit Sicherheit antreffen würde.
Vielleicht würde die Partie doch noch ein gutes Ende nehmen. Ein Remis, oder sogar ein Matt zu seinen Gunsten.
9
Forss saß unter einem Baum in der Allee der Gerechten unter den Völkern in der Außenanlage der Gedenkstätte. Sie spürte, wie das Sonnenlicht und die frische Luft sie wieder in die Gegenwart zurückholten, auch wenn sie nicht den Schatten vertrieben, der sich in der Ausstellung über ihr Herz gelegt hatte. Und dann war da der Würfel, das filigrane Faltwerk aus dem Parkschein, das der Mörder von Henrik Larsson zurückgelassen hatte; es war kein Origami-Gebilde, sondern eine Schachfigur, wie sie in Konzentrationslagern von den Gefangenen gefaltet worden war. Was bedeutete das? Dass der Täter ein ehemaliger Konzentrationslagerinsasse war?
Oder konnte es etwas mit Larssons Aufenthalt in Jerusalem zu tun haben? Mit dem Attentat auf Wennerberg?
Weitere Kostenlose Bücher