Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Stockholmer Abend hinaus. Die Stadt lag erhaben in der Dämmerung, über dem Schloss stand ein violetter Schimmer in der Luft, beinahe wie eine Gloriole. Der Schimmer des Himmels und das Lichtermeer der Stadt spiegelten sich in dem eisfreien Wasserarm vor dem Grandhotel.
Sie dachte über die Dinge nach, die sie heute herausgefunden hatten. Der Schatten, der seit zehn Tagen über dem Fall lag, schien eine Form anzunehmen, allerdings eine, mit der niemand gerechnet hatte.
Bo Örkenrud und seine Mitarbeiter hatten schnell gearbeitet: Die Fingerabdrücke von Maria Alya-Fadias persönlichen Sachen aus dem Zimmer des Hotels Cardinal stimmten mit den Abdrücken von der Tür des Schmetterlingshauses überein. So bald wie möglich würden die Ergebnisse des DNS – Vergleichs vorliegen. Nyström sah auf das Foto, das Delgado ihr ausgedruckt hatte. Eine ernste Frau mit dunkler Haut, dunklen Augen und dunklem, langem Haar. Eine schöne Frau, dachte Nyström, nicht mehr jung, aber sehr schön. Ihre Biografie war im Internet gut dokumentiert. 1949 geboren, wuchs sie als Waisenkind mit palästinensischen Wurzeln in einem christlichen Kinderheim in Jerusalem auf, das von englischen Ordensschwestern geleitet wurde. Sie wurde auf den Namen Maria Johns getauft, besuchte die englischsprachige Schule, schloss diese mit Bestnoten ab und ging als Siebzehnjährige nach England, wo sie mithilfe verschiedener Stipendien zunächst an der University of London, später dann in Cambridge studierte und anschließend promovierte. Wie viele andere Hunderttausend Studenten auch, fing sie Ende der Sechzigerjahre an, sich zu politisieren. Sie begann, sich für ihre palästinensische Herkunft und für die Frauenbewegung zu interessieren, und engagierte sich in diversen politischen Gruppen. Ende der Siebzigerjahre legte sie ihre Doktorarbeit vor: Macht und Männlichkeit – Herrschaft im postkolonialen Palästina . Wenige Monate später übernahm sie den Vorsitz im Internationalen Kollektiv lesbisch-feministischer Akademikerinnen . Sie legte ihren Nachnamen Johns ab und nahm den Namen ihrer leiblichen Mutter an: Alya-Fadia. Das war Arabisch und bedeutete so viel wie erhabene Ritterin . Ihre wissenschaftlichen Thesen verknüpften feministische Theorien mit marxistischer Kapitalismuskritik, Homosexualität mit Antiimperialismus und die PLO mit dem Gender-Diskurs. Schnell machte sie akademische Karriere: Ende der Achtzigerjahre war sie eine der jüngsten Professorinnen Großbritanniens, später bekam sie Gastprofessuren in den USA und in Paris, schließlich wurde sie in den Niederlanden sesshaft. Dort wohnte sie noch heute mit ihrer Lebensgefährtin, ebenfalls einer Wissenschaftlerin, unterrichtete an der Universiteit van Amsterdam und war ehrenamtliche Vorsitzende der niederländischen Abteilung der NGO Free Gaza Now .
Ingrid Nyström rieb sich die Schläfen. Maria Alya-Fadia, eine Wissenschaftlerin und Feministin mit internationalem Renommee. Sollte diese Frau tatsächlich etwas mit Larssons Tod zu tun haben? Sollte es etwas geben, was diese Frau ins kleine Småland kommen und einen alten Mann auf grausamste Art und Weise zu Tode zu foltern ließ?
Hass? Rache? Vergeltung? Ging es darum?
Was war das Bindeglied zwischen diesen beiden Menschen?
Wohl kaum die Tatsache, dass beide homosexuell waren. Ein abstruser Gedanke. Und Jerusalem? Sicher, Larsson war in Israel gewesen. Aber als Maria Alya-Fadia 1949 geboren wurde, war er ja schon längst wieder in Schweden oder zumindest auf dem Weg dorthin. Das ergab alles keinen rechten Sinn. Und wie passte Walter Hedingks in dieses Bild? Alles sprach dafür, dass auch er tatsächlich am Tatort gewesen war; Forss’ Theorie von der gefalteten Schachfigur, der Unfall in der Nähe des Tatorts. Jetzt war er abgetaucht, die Fahndung nach ihm war bisher ergebnislos geblieben. Allerdings: Wenn er der Täter war, wie kam es dann, dass seine Blutspuren vom Unfallort nicht mit denen vom Tatort übereinstimmten? Und was sollte Walter Hedingks für ein Motiv haben, den Lebensgefährten seines längst verstorbenen Onkels zu töten? Kannten sich Alya-Fadia und Hedingks womöglich? Hatten sie die Tat gemeinsam begangen? Im Hotel Cardinal hatte man nichts von einem Begleiter gewusst, aber das musste ja nichts heißen. Sie spürte, dass sie zu müde war, um noch weiterzudenken. Sie ließ ihren Kopf in die Lehne des Taxisitzes sinken. Nur ganz kurz die Augen schließen, nur für einen Augenblick.
7
Forss wachte auf, als das
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