Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
zweite, kleinere Flugzeug, in dem sie von Stockholm nach Växjö geflogen war, landete. Mitihr verließen ein Dutzend andere Passagiere die Maschine, die meisten waren offensichtlich Geschäftsleute in ihren uniformen Mänteln, Schuhen und Anzügen. Forss’ Koffer war einer der letzten, der aus dem Loch in der Wand gefahren kam, und als sie endlich durch die Schiebetüren der leeren Ankunftshalle trat, sah sie die Rücklichter des Flughafenbusses in der Dunkelheit verschwinden. Vom nahen Helgasee her wehte ihr brackiger Wind ins Gesicht und in die weiten Ärmel ihres Lodenmantels. Sie trottete durch den Regen zur Bushaltestelle an der Bundesstraße.
Im Bus war sie die einzige Passagierin. An einer Stelle der Straße konnte man durch die Bäume und die Dunkelheit hindurch einige Meter weit auf den See hinausschauen. Auf dem Eis stand schwarzes, schimmerndes Wasser, der Winter zeigte Schwächen. Sie dachte an ihren kranken Vater. Während sie im Flugzeug gesessen hatte, hatte Maj zweimal versucht, sie zu erreichen.
Nur Anette Hultin war noch in ihrem Büro. Sie schreckte hoch, als Forss zur Türe hineinkam, eine Strähne ihres Haars stand in einem merkwürdigen Winkel ab, offensichtlich war sie an ihrem Schreibtisch eingeschlafen. Sie begrüßten sich, und Forss hatte den Eindruck, dass Hultin sich freute, sie zu sehen.
»Kaffee?«, fragte sie.
»Unbedingt«, sagte Forss.
Sie zog ihren Mantel aus und legte ein Foto auf Hultins Schreibtisch. Dann begann sie zu erzählen.
»Kann das alles wahr sein?«, fragte Anette Hultin, obwohl sie wusste, dass es so passiert sein musste. Es passte alles zusammen. Sie sah die Fotos an, die vor ihr lagen. Das kleine Schwarz-Weiß-Bild, das Forss im Archiv in Jersualem gefunden hatte, und den großen DIN-A4-Ausdruck aus dem Internet.
»Es muss so sein«, sagte Forss. »Maria Alya-Fadia ist die Tochter von Balthasar Melchior Frost. Es steht alles in seinem Tagebuch. Frost war als britischer Soldat im Mandatsgebiet Palästina stationiert. 1946 wird er aus der Armee entlassen. Die Briten ziehen sich langsam aus der Region zurück, der Staat Israel entsteht. Frost bleibt, hält sich mit dubiosen Grundstücksvermittlungen über Wasser. Mit anderen Worten: Er haut palästinensische Bauern und jüdische Siedler übers Ohr. 1948 passiert es dann, er lernt in einem palästinensisch-christlichen Vorort von Jerusalem ein junges Mädchen kennen, Fadia. Sie beginnen eine Liebschaft, heimlich, Fadia wird schwanger. Ihre Eltern kommen hinter die Geschichte, jagen Frost zum Teufel. Er treibt sich daraufhin einige Wochen unglücklich in Jerusalem herum und trinkt sich durch die Bars. Irgendwann nach einer Zechtour wacht er in einem Hospital auf. Er hat Fieber und ist ernsthaft krank. Die Ärzte diagnostizieren eine Syphiliserkrankung in einem sehr fortgeschrittenen Stadium. Frost hat nicht mehr lange zu leben. Er muss an Fadia denken und an sein ungeborenes Kind. Was, wenn er seine Geliebte angesteckt hat? Oder sein eigenes Kind? Er muss Gewissheit haben. Mit letzter Kraft macht er sich auf zu Fadias Elternhaus. Der Vater und Fadias Brüder machen sich mit Knüppeln über ihn her. In ihren Augen ist er der weiße Teufel, der die Ehre der Familie in den Schmutz gezogen hat. Frost leckt seine Wunden und begreift, dass Fadia von der Familie verstoßen worden ist. Er macht sich auf die Suche nach ihr. Vergeblich. Er stirbt wenige Wochen später vergessen von Gott und der Welt im Armenischen Hospiz in der Altstadt von Jerusalem.«
Forss trank von ihrem Kaffee. Hultin sah gedankenverloren aus dem Fenster. Forss fuhr fort.
»Sein Bettnachbar im Hospiz war ein junger Schwede. Ebenfalls von Gott und der Welt vergessen, ja, für tot gehalten. Henrik Larsson, von dem jeder glaubte, dass er beim Attentat auf den Diplomaten Wennerberg ums Leben gekommen ist. Doch Larsson hat überlebt, wird langsam wieder gesund und begreift, dass sich ihm eine Chance bietet, unerkannt nach Schweden zurückzukehren. Dorthin, wo sein junger Freund Johan Lönn auf ihn wartet. Henrik Larsson wird zu Balthasar Melchior Frost.«
»Und die junge Fadia ...«
Hultin betrachtete jetzt wieder die beiden Fotos, die vor ihr lagen. Zwei Frauen. Die Bilder einer sechzehnjährigen Mutter und ihrer sechzigjährigen Tochter.
»Wenn es stimmt, was du gelesen hast, und Maria als Waisenkind aufwuchs, muss Fadia sehr jung gestorben sein. Wahrscheinlich waren Frosts Befürchtungen wahr, und er hat sie angesteckt.«
»Aber wäre dann nicht
Weitere Kostenlose Bücher