Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
kompensieren, die ich nicht auffangen konnte. So gerne ich das getan hätte. So wie es meine Aufgabe gewesen wäre.«
Wieder fuhr auf dem Sund ein Schiff vorbei, diesmal war es ein kleineres, vielleicht ein Fischerboot.
»Aufgefangen hat ihn dann ein anderer.«
»Johan. Dein Bruder.«
»Ja, Johan. Mein Bruder, Walters Onkel.«
»Du wusstest über die Jahre hinweg, dass er lebt?«
»Nein, nicht sofort.«
Hedingks schnäuzte sich. Das Taschentuch war wieder aufgetaucht.
»Seine Situation war für uns unklar, über Jahre hinweg. Er ist ’49 weggelaufen von zu Hause. Es gab bald vereinzelte Lebenszeichen, damit Mutter sich nicht grämte. Postkarten, abgestempelt auf Liseberg, in Hässleholm, in Malmö. 1951 kam die erste. Wir wollten es zuerst nicht glauben. Aber sie waren zweifelsfrei echt. Eine war sogar aus London. Später haben wir uns gegenseitig Briefe geschrieben, er war vorsichtig, er hatte ein Postfach in Lund, die Angst vor Vater muss wahnsinnig gewesen sein. Wiedergesehen habe ich ihn erst viele Jahre später, nach Vaters Tod.«
»Das Foto von der Beerdigung, das ich dir gezeigt habe. Das Foto aus Johans Album.«
»Genau. Das war im Frühling 1971. Seitdem standen wir in Kontakt.«
»Und Balthasar Frost?«
»Ja, der brave Henrik. Ich mochte ihn, wir mochten uns. Sein Tod hat mich tief berührt.«
»Gestern wurde er beerdigt.«
»Ich habe es gelesen. Es schmerzt. Ich hätte da sein sollen.«
»Ja. Hättest du.«
Auf dem Wasser schrien Vögel.
»Kannte Walter Henrik Larsson? Wie war ihr Verhältnis? Hatten sie Kontakt in den letzten Jahren?«
Nyström spürte, dass sie unruhig wurde. Sie war jetzt nah dran an dem entscheidenden Punkt der Ermittlung. Ganz nah dran.
Hedingks’ Stimme war trocken. Sie raschelte wie altes Papier.
»Walter und Johan haben sich auf Vaters Beerdigung kennengelernt. Der verlorene Junge trifft auf den verlorenen Sohn der Familie. Walter war damals Anfang zwanzig, ein existenzialistischer Hungerhaken in schwarzen Rollkragenpullovern. Als er Johan traf, muss es für ihn wie eine Offenbarung gewesen sein. Identifikationsfigur, Vaterersatz, man muss kein Freudianer sein, um es zu verstehen. Sie taten einander gut. Für Johan war es wohl eine Art von Wiedergutmachung, vielleicht sogar eine neue Anbindung an die Familie. Sie trafen sich in Cafés in Haga, Walter studierte damals in Göteborg, und auch hier, in Stockholm. Wir haben ganze Sommer auf der Terrasse draußen gesessen, zu viert, solange Mutter noch lebte, später zu dritt. Die letzten Lönns sozusagen, die Letzten ihrer Art.«
Ein flaches Lächeln flog über das Gesicht der alten Frau, bewegte Furchen und Falten.
»Aber Henrik war nie dabei?«
Etwas zog Nyström vorwärts. Weiter hinaus, wie die stete Strömung draußen im Sund.
»Nein, am Anfang nicht. Das wollte Johan unserer Mutter nicht antun. Sie wusste es natürlich, allerdings sah sie darüber hinweg. Ein schwuler Sohn? So etwas gab es nicht. Und gar Johans Liebhaber am Familientisch? Das war undenkbar. Selbst noch Jahre nach ihrem Tod, mir wäre es egal gewesen, aber auch Johan selbst hatte da eine große Hemmschwelle. Besonders Walter gegenüber. Gerade Walter gegenüber. Seine Abwesenheit all die Jahre, er hat lange die Legende aufrechterhalten, mit der Walter aufgewachsen war, die Legende vom erfolglosen Schriftstellerdasein in Neuseeland. Neuseeland, meine Güte. So als habe er bei Walter etwas gespürt, etwas, das ihn gewarnt hat.«
»Gewarnt? Wovor gewarnt?«
»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Walter hatte wohl, wie soll ich sagen, eine besondere Einstellung. Er hatte seine Ressentiments .«
»Schwulen gegenüber?«
»Gegenüber Homosexuellen, ja.«
»Du hast ihn vorhin als eine Art verlorenen Rebellen bezeichnet. Als existenzialistischen Studenten mit Weltschmerz. Wie passt das zu seinen homosexuellenfeindlichen Ressentiments?«
Hedingks zögerte. Kurz wurde ihr Gesicht hart. Dann war der Moment vorüber.
»Es ist etwas passiert, Erik ist etwas passiert. Damals, in Norwegen, im Krieg, im Arbeitslager. Er ist vergewaltigt worden, mehrmals, ich weiß nicht, vielleicht regelmäßig, er wollte nicht darüber sprechen, selbst mit mir nicht, die Scham war zu groß, man kann es verstehen. Dort ist ein Hass gewachsen in ihm. Ein lodernder, verzehrender Hass. Er hat auf Homosexuelle geschimpft, nein, gewettert hat er. Kennst du diese Geschichten, über die Moberg und die Abendpresse Anfang der Fünfziger geschrieben haben? Kejne?
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