Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Fahrt in ihrem neu gekauften Auto. Vom Schnee des vergangenen Tages war kaum noch etwas zu sehen, die Straße glänzte lakritzfarben im Scheinwerferlicht. Zwischen Älmhult und Osby überquerten mehrere Rehe die Fahrbahn. Sie dachte an die Wildschweine und die Unfälle, von denen Nyström erzählt hatte. Ihr Vorgänger lag immer noch im Krankenhaus. In den CD – Spieler des Autoradios hatte sie Motorpsycho eingelegt, eine norwegische Band, die in den Neunzigerjahren den Begriff Rock zertrümmert und neu zusammengesetzt hatte. Ein wenig so fühlte sie sich heute. Sie drehte die Musik ein Stück lauter.
Der Parkplatz neben der Bundesstraße war leicht zu finden. Drei Bogenlaternen warfen Zelte aus gelbem Licht auf den Asphalt. Zwischen zwei der Lichtinseln parkte ein BMW mit laufendem Motor. Forss hielt in zehn Metern Abstand und stieg aus. Auch die Tür des BMW wurde geöffnet, ein kräftiger Mann in Lederjacke und Schal schälte sich aus dem tiefen Sitz und trat auf sie zu, sie gaben sich die Hand. Forss musterte ihr Gegenüber: Der Mann hatte sehr kurz rasiertes Haar und einen Blick, dessen Härte seinem Händedruck in nichts nachstand. Forss begriff, dass sie einen Mann mit einer ausgeprägten rechtsextremen Haltung vor sich hatte. Ein Schauer der Abscheu durchlief sie. Gleichzeitig verstand sie, dass dies nicht der Ort und nicht die Situation war, um Weltbilder zu diskutieren, nicht mit dieser Muskelmaschine vor ihr. Der Abschluss des Geschäfts dauerte keine zwei Minuten. Der Mann reichte ihr ein flaches Mäppchen, in dem sich die Waffe und ausreichend Munition befanden. Routiniert kontrollierte Forss die SIG Sauer. Die Waffe machte einen gepflegten Eindruck, ausprobieren musste sie sie woanders. Sie reichte dem Kurzhaarigen den vereinbarten Geldbetrag. Der Mann zählte nach, nickte knapp, dann fuhren sie in entgegengesetzte Richtungen davon. So als hätte das Treffen nie stattgefunden.
13
Als sich die Ermittlungsgruppe zusammensetzte, war es schon wieder dunkel geworden. Das Thermometer war auf zwei Grad unter null gefallen und der Regen in Schneefall übergegangen. Die überfrierende Nässe sorgte für katastrophale Straßenverhältnisse, und die Streifenwagen verließen beinahe im Minutentakt das Gelände des Polizeipräsidiums. Der pulsierende Schein des Blaulichts drang bis in das Besprechungszimmer im dritten Stock und tauchte Ingrid Nyströms Zeichnung auf dem Flipchart für Momente in Discolicht.
Sie begannen damit, die Bedeutung der neuen Ermittlungserkenntnisse zu diskutieren. Balthasar Melchior Frost und Johan Lönn hatten offensichtlich über mehr als vierzig Jahre lang eine heimliche Lebensgemeinschaft gebildet. Das einsam gelegene Haus, weit draußen bei Dädesjö, bot für ihr verborgenes Leben die ideale Voraussetzung. Frost hatte außerdem einen Beruf, den er weitgehend zu Hause ausüben konnte und der ihm und seinem Partner finanzielle Unabhängigkeit garantierte. Ihr soziales Leben hatte dem Fotoalbum zufolge in einem kleinen, funktionierenden Netzwerk stattgefunden. Man fuhr gemeinsam in Urlaub, traf sich zu Festen, besuchte bekannte Treffpunkte in Großstädten wie Stockholm, Hamburg oder New York. Der Plan, ihre homosexuelle Liebe vor der Welt geheim zu halten, hatte ein Leben lang funktioniert. Zwei Leben und zwei Tage lang.
»Aber warum nur tut man sich so etwas an? Warum dieses unwürdige Leben im Versteck?«, fragte Delgado.
»Aus Angst vor Bloßstellung, Diffamierung, Verfolgung. Und das in Schweden, in einem Land, in dem wir uns so viel auf unsere Liberalität einbilden!«
Nyström dachte an das, was ihr der alte Axelsson über das schwulenfeindliche Klima in den Fünfzigerjahren erzählt hatte, an Kejne, Haijby und Vilhelm Moberg.
»Ist Hass auf Homosexuelle das Motiv, nach dem wir suchen?«, fragte Delgado weiter. »Haben wir es mit einem Schwulenfeind zu tun, mit einem religiösen Eiferer?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Anette Hultin. »Vielleicht ist alles viel banaler, vielleicht laden wir Dinge mit Bedeutung auf, die sie nicht haben. Ob Caravaggio, wie Stina meinte, oder auch dieser Origami-Würfel – möglicherweise haben wir einfach schon zu viele Filme gesehen. Vielleicht sollten wir für den Moment einmal alle Dinge, die uns jetzt so merkwürdig erscheinen, die irgendwie nach Symbolgehalt oder Ritual aussehen, ausklammern und uns auf den Kern konzentrieren: das Motiv. Und meines Erachtens ist bis jetzt nur eine Person in der Ermittlung aufgetaucht, die einen
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