Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Frost bekannt.
Hildegard Hedingks
Nyström verzog das Gesicht. Aua. Das hätte man durchaus netter formulieren können. Entschuldigung, dass ich meine Arbeit mache, dachte sie. Sei’s drum. Sie nahm das Papier, lochte es und heftete es zu den anderen Untersuchungsunterlagen. Das war die letzte Aktion für heute, entschied sie und klappte den Aktendeckel zu. Eine halbe Stunde von hier entfernt wartete Anders mit einem Abendessen auf sie. Wenn sie dafür nicht längst zu spät dran war. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Vermutlich blieb ihr nur die Mikrowelle. Dann stutzte sie. Sie klappte den Aktendeckel wieder auf, holte das Faxpapier heraus und las es noch einmal. Ja, genau. Da stand es schwarz auf weiß.
Ebenso wenig ist mir der Name Balthasar Melchior Frost bekannt.
In der anderen Hand hielt sie das Fax, das sie nach Lidingö geschickt hatte. Merkwürdig, in ihrem Anschreiben hattesie Frosts zweiten Vornamen, Melchior, überhaupt nicht erwähnt.
15
Die Landstraße von Hässleholm nach Ljungby führte über Osby und Älmhult. Irgendwo links der Straße, in der Dunkelheit eines kleinstädtischen Industriegebiets, stand das allererste Ikea-Kaufhaus.
In Ljungby fand sie den Parkplatz des Seniorenpflegestifts ohne Mühe. In einigen Fenstern des zweigeschossigen, gelb verklinkerten Zweckgebäudes brannte Licht. Die Digitaluhr auf dem Display des Autoradios zeigte an, dass es kurz vor acht war, das Thermometer stand auf drei Grad unter null. Die Kiefern, die den Parkplatz umgaben, neigten sich in einem leichten Wind, der jetzt von Südosten kam. Forss ließ das Fenster der Fahrertür hinunter, feuchte Nachtluft drückte in das Auto, in ihre Lunge.
Einatmen, ausatmen.
Wie Wellen an einem Strand, hatte der Therapeut gesagt.
Die Kiefern knackten. Irgendwo wurde ein Auto angelassen. Eines der beleuchteten Fenster in der Fassade erlosch. Bist du das, Vater? Hast du das Licht gelöscht? Findest du Schlaf, jetzt, wo du krank bist? Oder kommen nachts die Erinnerungen zurück? Das Brüllen, die Schläge, die weinende Mama? Und wo bin ich in deiner Erinnerung?
Lange blieb sie so sitzen, sah auf das kubistische Spiel der Schatten, die vom Licht der Parkplatzbeleuchtung auf die Klinker geworfen wurden. Sie atmete ein und atmete aus. Wellen am Strand von Ljungby, in einer kalten Nacht im Februar. Schließlich startete sie den Wagen und fuhr in die Dunkelheit davon.
16
Maria verschlief große Teile des Tages. Ihr Körper und ihre Seele waren erschöpft, zollten den Kraft raubenden Geschehnissen der letzten Tage Tribut. Wenn sie aufwachte, trank sie Wasser oder Tee. Das Fieber kam und ging. Ihre Träume vermischten sich mit den Motiven der gerahmten Fotos an der Schlafzimmerwand: Love in ihrem weißen Kittel, umringt von Kindern mit schwarzer, brauner, gelber Haut. Kinderlachen und unfassbar dünne Gliedmaßen. Love mit einer Spritze in der Hand. Love, die behutsam ihren Verband wechselt. Ihr Unterbewusstsein rief nach Heilung. Aber da waren noch andere Elemente in ihren Träumen: grobe Hände, die nach ihr griffen, die sie packten, die sich auf ihren Mund und um ihren Hals legten. Hände, die sie ersticken wollten. Schreiend wachte sie auf. Die Gefühle von Angst und von Schuld waren da, in ihr, ganz real, körperlich. Es war, als habe sie den Schock mit dem Fieber ausgeschwitzt. Nun begann sie zu begreifen, was sie getan hatte, an dem Abend in dem dunklen Wald.
Und was ihr angetan worden war.
MITTWOCH
1
Stina Forss trank eine Cola, die sie im Bordrestaurant des Zugs gekauft hatte. Ihr gegenüber saß Ingrid Nyström und schenkte sich einen Tee aus einer altmodisch aussehenden Kunststoffthermoskanne ein; auf dem Tisch vor ihr standen Plastikbehälter mit Gemüseschnitzen und Obst. Forss sah aus dem Fenster. Der X2000 raste mit hoher Geschwindigkeit nordwärts. In der Morgendämmerung kauerten Tannenwälder, duckten sich Senken unter einer löchrigen Schneedecke, schimmerten schiefergraue Seen. Forss musste an den verlassenen Traktor im Wald denken, an den merkwürdigen Würfel, den der Täter hinterlassen hatte. Origami, Kouzo-Papier, Kalligrafie, Seidenspinnerraupen: Frost und seinen Tod umgab eine fernöstliche Aura. Sie hatte diese Kombination schon einmal irgendwo gesehen, in einem Film. Da waren es Tiere aus Papier, gefaltete Einhörner und Kraniche. Jetzt fiel es ihr wieder ein. In Blade Runner gab es diesen Mann, der Origami-Tiere faltete und an den Tatorten hinterließ.
War es das?
Galt das auch für den Täter,
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