Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
triftigen Grund gehabt haben könnte, Frost zu töten: der Erpresser, von dem Axelsson gesprochen hat. Ich verstehe Frosts vage Anspielungen von dieser Schlange mit den zwei Gesichtern so, dass ihn jemand belogen hat. Belogen und erpresst, um eine hohe Geldsumme, das goldene Schloss. Was, wenn Frost sich nun entschieden hat, am Ende seines Lebens reinen Tisch zu machen, den Erpresser anzuzeigen? Nach Johan Lönns Tod gab es für Frost nur noch einen Grund, nicht zur Polizei zu gehen: seine eigene Scham. Möglicherweise hatte er die nach all den Jahren überwunden, oder der Erpresser hatte Grund zu glauben, dass Frost sie überwunden haben könnte. Und da hat er zugeschlagen, bevor Frost den Mund aufmachen konnte. Die Schlange beschützt ihr goldenes Schloss.«
»Zwei Theorien«, sagte Nyström. »Und beiden müssen wir mit der gleichen Sorgfalt nachgehen, auch wenn ich im Moment eher geneigt bin, Anettes Überlegungen zu folgen.«
Delgado grunzte, Hultin grinste, Lindholm gähnte, und Knutsson sagte nichts, er schmollte noch.
14
Als Nyström später in ihrem Büro saß, waren ihre Kollegen längst nach Hause gegangen. Ihre Gedanken kreisten um Johan Lönn, um den Erpresser, um den seltsam gefalteten Parkschein. Und um Lars Knutsson, der in seiner Hornochsigkeit mit seinen Riesenfüßen im Garten herumgetrampelt war, bevor die Spurensicherung den Bereich freigegeben hatte. Und das mit mehr als dreißig Jahren Diensterfahrung! Ein Hornochse, wirklich ... Das war auch das Wort, das sie hatte verwenden wollen, als sie ihrer Wut schließlich freien Lauf gelassen und ihn zusammengefaltet hatte. Lasse, du Hornochse! Benutzt hatte sie allerdings ein anderes Wort, Vollidiot, hatte sie in ihrer Wut gesagt, und das tat ihr jetzt leid. Lars war bisweilen etwas trottelig, aber er war kein Schwachkopf, und selbst wenn er einer gewesen wäre, hätte es ihr als Chefin nicht das Recht gegeben, ihn als Vollidioten zu bezeichnen. Das war entwürdigend, für sie beide, außerdem sollte sie ein Vorbild sein, als Chefin, und das war sie wohl kaum, wenn sie ihre Mitarbeiter bei Fehlern nach Strich und Faden herunterputzte. Vielleicht sollte sie sich entschuldigen. Anderseits ... Sie seufzte. Sie spürte ihre Müdigkeit. Und sie musste dringend aufs Klo.
Als sie von der Toilette kam, begegnete ihr im Flur ihr Vorgesetzter Erik Edman. Förmlich nickte er ihr zu. Für einen Augenblick fragte sie sich, was ihr Chef um diese Uhrzeit noch im Polizeipräsidium machte. Sie nickte zurück. In seinem schimmernden Anzug sah Edman nicht aus wie ein Polizist, sondern wie jemand, der Finanzen verwaltete. An seinem Schlips klemmte eine goldene, golfschlägerförmige Krawattennadel. Sie würde die Faszination, die Golf auf gut betuchte Männer in mittlerem Alter ausübte, nie begreifen. Ihre Freundin Ann-Vivika Kimsel hatte dazu ihre ganz eigene Theorie, in der den Wörtern Schläger und Schwanzersatz zentrale Bedeutung zukam, aber wie sie selbst sagte, Küchenpsychologie und Frauenzeitschriften ergaben gefährliches Halbwissen. Dann musste Nyström an ihre Nichte Sanna denken, die spielte auch Golf und war 14 Jahre alt. Ihre Vorurteile waren also Quatsch. Das Rattern des vorsintflutlichen Faxgeräts, das aus ihrer offenen Bürotür klang, riss sie aus den Gedanken. Das Fax kam aus Stockholm, genauer gesagt von der Insel Lidingö, der Absender war Hildegard Hedingks, Johan Lönns Schwester, und es war eine Antwort auf die Anfrage, die Nyström vor zwei Stunden nach Stockholm gefaxt hatte. Zuvor hatte sie mehrmals versucht, die Freifrau oder Baronin oder was auch immer Hildegard Hedingks genau war, ans Telefon zu bekommen. Hängen geblieben war sie jedes Mal an einem Hausmädchen, das ihr in breitestem Dalarna-Akzent mitteilte, dass die Dame des Hauses momentan nicht abkömmlich sei. Nyström hatte überlegt, wann sie zum letzten Mal diesen Ausdruck gehört hatte. Wahrscheinlich in einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung. Schließlich hatte sie genervt zu Papier und Stift gegriffen und eine Anfrage formuliert, ob Hildegard Hedingks im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung Auskunft über ihren Bruder oder über Balthasar Frost geben könnte.
Liebe Kommissarin Nyström,
wie du mit ein bisschen mehr Eigeninitiative zweifelsohne hättest feststellen können, ist mein Bruder Johan seit sechzig Jahren als polizeilich vermisst gemeldet. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts von ihm gehört. Ebenso wenig ist mir der Name Balthasar Melchior
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