Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Sie hatte nach wie vor keine Vorstellung davon, was die Lügen der alten Dame zu bedeuten hatten. Was verschwieg sie? Und warum? Aus Angst? Scham? Sie musste an das Gespräch mit Frederik Axelsson denken. Schämte sich Hildegard Hedingks wirklich immer noch für ihren schwulen Bruder, der vor vielen Jahren gestorben war, oder steckte etwas ganz anderes dahinter?
Sie wusste keine Antwort. Und ihr fehlte eine Strategie. Sie hatte nichts weiter als vage Theorien. Es fehlte ein Plan, irgendetwas, das die festgefahrene Ermittlung endlich in Bewegung brachte. Im Grunde brauchte sie ein Wunder.
Um die Müdigkeit zu vertreiben, ging sie hinunter in die Kantine und kaufte sich eine Flasche Orangensaft. Dort war kaum etwas los. Emma, die Frau an der Kasse, las ein Buch, Dein Augenblick , ein Roman von Vilhelm Moberg, den Nyström selbst schon einmal gelesen hatte. Auf dem Weg zurück in ihr Büro dachte sie über das nach, was Frederik Axelsson ihr über Moberg und die Homosexuellen erzählt hatte. Es war ein unschöner Teil der schwedischen Geschichte, von dem sie vorher noch nie gehört hatte. Eine Geschichte der Marginalisierten, Ausgegrenzten. Und Moberg, der beliebte und anerkannte Schriftsteller? Von ihm hatte sie eigentlich ein ganz anderes Bild gehabt. Er war doch ein Mann gewesen, der in schwierigen Zeiten Courage gefordert hatte, als die meisten Schweden die böse, gefährliche Welt fernhalten wollten und nur das eigene Wohl im Auge hatten. Im Zweiten Weltkrieg, als sich die schwedische Regierung nicht traute, sich Hitlerdeutschland zum Feind zu machen, und die Nachbarländer im Stich ließ, war Moberg einer der lautesten Kritiker gewesen. Ein Kämpfer für das Gute, ein Antifaschist. Dafür hatte Nyström ihn bewundert und respektiert. Für sie war er auch ein Mann, der die einfachen Menschen beachtet hatte. Sie dachte an seinen Roman Die Auswanderer , in dem er das Schicksal armer und verzweifelter Menschen schilderte, die im 19. Jahrhundert Småland verlassen hatten, um im fremden Amerika eine Zukunft zu suchen. Ihr fiel ein, wie sie beim Lesen mit den Protagonisten gefühlt und gebangt hatte. Aber Axelsson zufolge hatte Moberg auch eine andere Seite. Sie dachte an den Schwulenhass. Das passte nicht richtig zusammen. Sie trank von dem Orangensaft, schaltete den Computer an und suchte im Internet nach einem Porträt Mobergs. Auf ihrem Bildschirm sah sie ein ernster Mann von seinem Schreibtisch an. Sie arbeitete sich durch den dazugehörigen Text. Seine Kritik an der schwedischen Außenpolitik während des Zweiten Weltkrieges wurde mehrmals erwähnt, auch dass er ein Gegner des schwedischen Königshauses gewesen war, aber viel mehr war über sein politisches Wirken nicht zu erfahren. Nyström schüttelte innerlich den Kopf, der Text war genauso lückenhaft wie ihr eigenes Bild von dem Mann. Das führte sie nicht weiter. Sie schaltete den Computer wieder aus, nahm ihren Mantel und verließ das Büro. Wenn sie wirklich was über Moberg in Erfahrung bringen wollte, musste sie woanders suchen. Sie wusste auch wo. Außerdem konnte sie etwas frische Luft gebrauchen.
Obwohl es immer noch regnete, ging Nyström zu Fuß. Das Auswanderermuseum lag fünf Minuten vom Polizeipräsidium entfernt auf der anderen Seite des Bahnhofs. Sie nahm die Brücke über die Gleise und bog danach in einen kleinen Park ein. Der moderne Bau mit der ungewöhnlichen Naturholzfassade war architektonisch gelungen und eins der interessantesten Gebäude der Stadt, fand sie. Eigentlich war es komisch, dass Växjö ein wenig damit prahlte, eine Auswandererstadt zu sein. Warum sollte man stolz darauf sein, dass die Menschen im 19. Jahrhundert in Strömen aus Växjö und Småland weggezogen waren? Nicht nur, dass das Auswandererhaus eine der größten Attraktionen der Stadt war, im Sommer wurden auch jedes Jahr die Karl-Oskar-Tage gefeiert, ein Stadtspektakel, dessen Name auf den nach Amerika ausgewanderten Protagonisten in Mobergs Roman zurückging. Auswandern, in ihren Ohren klang das Wort beinahe nostalgisch, hatte einen Hauch von längst vergangenen Zeiten, dabei war doch Auswandern immer noch ein aktuelles Thema, nur dass es schon seit Jahrzehnten umgekehrt war: Nach Växjö kamen Einwanderer, die woanders ausgewandert waren, in den Siebzigern Chilenen, wie einst die Eltern von Hugo Delgado, oder später die Bosnier, Iraker oder Somalier.
In der Eingangshalle des Museums war es ruhig, abgesehen von der Frau hinter der Rezeption war niemand zu
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