Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
gejoggt und hatte anschließend in der Sporthalle geduscht, um dann festzustellen, dass sie in ihrem Spind nichts Sauberes zum Anziehen hatte. Der Rucksack mit der frischen Jeans, der Bluse und der Unterwäsche stand wohl in ihrem anderen Spind, im Präsidium. So saß sie in ihrem klammen, verschwitzten Trainingsanzug zwischen ihren gestylten Kommilitonen, die in der Vorlesung den langatmigen Ausführungen des Rechtswissenschaftlers zuhörten und Notizen in ihre Netbooks hackten. Auf die Vorlesung folgten ein trauriges Krabbenbrötchen und ein Apfelsaft im Uni-Café. Eine Mensa, wie Forss sie aus Deutschland kannte, gab es nicht, die meisten Studenten machten sich ihr mitgebrachtes Essen in den Mikrowellen warm, die überall herumstanden, auch in der Kantine des Präsidiums, sogar bei McDonald’s. Nach der Mittagspause langweilte sie sich in einem Forensikseminar mit anschließender Diskussionsrunde, an der sie sich nur widerwillig beteiligte. Sie hatte das Gefühl, dass es nach jedem ihrer Wortbeiträge still im Raum wurde, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Nach der Veranstaltungtrat der Seminarleiter auf sie zu und fasste sie an die Schulter, eine Berührung, die sie zusammenzucken ließ. Der schmächtige Mann mit Brille war ungefähr in ihrem Alter und betonte, wie interessant er ihre Ausführungen gefunden habe, Berufspraxis in einer ausländischen Großstadt und dann noch Berlin, vielleicht könne man sich ja einmal länger bei einem Kaffee austauschen. Ja, vielleicht, antwortete sie lächelnd und dachte: wahrscheinlich aber eher nicht.
Sie überlegte, ob sie direkt ins Präsidium gehen sollte, entschied sich aber dagegen, denn sie brauchte dringend eine heiße Dusche und etwas Frisches zum Anziehen. In der Lobby des Hotels wäre sie fast an ihm vorbeigegangen. So als weigerte sich ihr Bewusstsein, ihn wahrzunehmen. Die maximale Verdrängung. Aber eben nur beinahe. Er stand vor ihr. Sebastian.
Geliebter Sebastian.
»Was machst du denn hier?«
»Stina, ich konnte nicht anders.«
Sie gingen auf ihr Zimmer, schnell, wortlos. Später rauchte Sebastian Zigaretten und sie auch, in dem Nichtraucherzimmer, dessen Boden mit den feuchten Joggingklamotten und ihrer beider Unterwäsche bedeckt war, aber das war egal, wie alles andere, und der Rauchmelder blieb stumm.
Es verging noch mehr Zeit, und sie rauchten und schliefen ein zweites Mal miteinander und tranken den Wodka, den sie auf der Fähre gekauft hatte, beinahe zwei Wochen war das her, ihre bis ins letzte Detail geplante Flucht, zurück in das Land ihrer Kindheit, in das Land ihres Vaters.
»Komm zurück zu mir. Komm nach Hause«, sagte er, als die Flasche zur Hälfte geleert war.
»Ich kann nicht«, sagte sie.
»Warum, Stina?«
Die Traurigkeit in seiner Stimme hallte in ihr wider. Sie sah ihn lange an. Die kantigen Schultern, seinen Mund, den sie so mochte, seine Augen, die wie feuchte, dunkle Steine im Restlicht des Zimmers schimmerten.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie in die Haare auf seiner Brust.
Aber das war gelogen.
5
Ingrid Nyström saß allein in dem Besprechungszimmer und starrte auf das Flipchart, bis ihr die eigene Schrift vor den Augen verschwamm. Sie hatte die Grafik auf den neuen Ermittlungsstand gebracht, aber auch das hatte keinen Erkenntnisgewinn gebracht. Ahnungslos blieb ahnungslos, auch wenn man die Ahnungslosigkeit visualisierte, dachte sie. Lustlos kaute sie auf einer Möhre herum. Sie schmeckte nach nichts, aber sie wusste, dass das nicht an der Möhre lag. Der trübe Nachmittag hatte eine weitere Enttäuschung gebracht. Sie hatten endlich die Nachbarin von Frost erreicht, die am frühen Sonntagmorgen in einen Kurzurlaub gefahren war. Doch Karin Engblom, die für ein paar Tage bei einer Freundin in Oskarshamn gewesen war, hatte zum Zeitpunkt der Tat am Samstagabend genau wie ihre alte, demente Mutter weder etwas Ungewöhnliches gesehen noch gehört.
Dazu kam, dass Nyström den ganzen Tag über immer wieder von Journalisten angerufen worden war, die über die neuesten Erkenntnisse unterrichtet werden wollten. Wenn das Medieninteresse weiter so konstant blieb, würde sie gezwungen sein, eine Pressekonferenz abzuhalten, und das war das Letzte, worauf sie momentan Lust hatte. Sie konnte nur beten, dass Frosts Homosexualität möglichst lange vor den Journalisten verborgen blieb, sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie die Boulevardblätter damit umgehen würden.
Dann dachte sie an Hildegard Hedingks.
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