Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
wie vor fünfzig Jahren. Diesmal war sein Hotel in einem Wohnblock außerhalb des Zentrums, nicht gerade komfortabel, alles andere aber war gut organisiert. Am Baikalsee wie in Peking standen ihm Dolmetscher und Auto zur Verfügung. Auf der ersten Etappe, eintausendachthundert Kilometer zwischen Moskau und Jekaterinburg, war Sergej sein Betreuer, der sagte, dass er einem Vierundsiebzigjährigen wie Klaus noch nie begegnet sei.
Auf den Bahnhöfen existierten weder Fahrstühle noch Rolltreppen, da quälten sich die Alten mit Sack und Pack über die Schienen. Das ist Russland, hatte Sergej geseufzt, das ist Russland, als sei die Abwesenheit von Rolltreppen ein von Gott bestimmtes Schicksal. Die Russen brauchen den Glauben, meinte er. Und Klaus konnte ihn sehen, den Glauben hinter dem Ural. Lenin-Statuen mit frischen Blumen, Kirchen, hergerichtetim alten Pomp, Frömmigkeit und Verehrung für die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Und für Wladimir Putin, weil der dafür sorgte, dass auch die Bürger hinter dem Ural ihre Rente kriegten und die Lehrer ihr Gehalt. An den großen Stationen der Reise wartete jedes Mal ein Dolmetscher auf den Einzelreisenden. Als er sich der Grenze zwischen Russland und der Mongolei näherte, kam ihm im Halbschlaf kurz der Gedanke: Was mache ich, wenn in der Mongolei morgens um sechs niemand da ist, um mich abzuholen. Auf dem Bahnhof in Ulan Bator aber stand pünktlich um sechs Uhr morgens eine Frau mit einem Schild, auf dem »Klaus Fritz Max« stand. Guten Morgen, Klaus Fritz Max, rief die Mongolin in aller Herrgottsfrühe.
Klaus möchte nicht, dass seine Asche über dem Wasser verstreut wird, wie es sich für einen Segler gehören würde. Nein, auf dem Friedhof in Köpenick, wo er geboren wurde, will er begraben sein, nicht anonym, seine Totenrede schreibt er selber. Die Leute aus Köpenick sollen an seinem Grab stehen bleiben und sagen: Ach, der Klaus Müller! Damit auch die fröhlichen Seiten des Todes garantiert sind, gründete Müller mit einigen seiner Segelfreunde den Verein »Leichenschmaus e. V.« Zweck des Vereins ist, beim Ableben eines Clubmitglieds einen Abend zu gestalten, an dem die Schwächen und Stärken des Verstorbenen belacht und begossen werden. Jedes Jahr am Totensonntag ist Jahreshauptversammlung, da steigen die Vereinsmitglieder, sportliche Herren zwischen zweiundfünfzig und fünfundsiebzig, in schwarzen Anzügen in einen Zug und fahren irgendwo hin, zum Beispiel nach Prag auf den Jüdischen Friedhof, danach trinken sie tschechischesBier. Oder sie machen einen Ausflug zur Seebegräbnisstätte Horst Schreiber in Warnemünde, hinterher bestellen sie Tequila in der Cuba-Bar am Alten Strom. Bisher ist der Ernstfall nicht eingetreten, sie haben noch keinen Toten zu beklagen, die Jahreshauptversammlung findet dennoch statt. Schwarzer Humor, sagt Müller, gehört zum Alter.
Manchmal möchte ich mitsterben
Dora liebt ältere Männer, sie liebte schon immer ältere Männer. Sie ist, was die Wissenschaft als gerontophil bezeichnet. Ihr erster war neununddreißig, da war sie sechzehn, danach kamen welche, die sind fünfzig und sechzig gewesen, als sie fünfundzwanzig war. Dora ist jetzt sechsunddreißig, Oskar, der Mann, mit dem sie zusammen lebt, wird nächstes Jahr siebzig, er ist ein erfolgreicher Künstler. Seine Freunde und Bekannten sind zwischen Mitte sechzig und neunzig, wache Persönlichkeiten mit Einfluss, Rückenleiden und Bauspeicheldrüsenproblemen.
Ich empfinde die alten Freunde nicht als alt, sagt Dora, man könnte mit denen sonst was erleben und unternehmen, das Leben biete so viele Möglichkeiten, auf Jahrzehnte hinaus. Aber dann kommt plötzlich der Gedanke: Moment mal, da leben die doch gar nicht mehr. Ihr vierjähriger Sohn werde irgendwann mit massenhaften Toden konfrontiert. Manchmal fühle ich Todessehnsucht, sagt sie. Ihr zarter Teint rötet sich, ihre grauen Augen füllen sich mit Tränen. Sie zückt ihren Handspiegel, pudert sich die Nase, und alles ist wieder gut.
Dora lebt in einer anderen Zeitrechnung, sie rechnet nicht in Jahrzehnten, sondern in Monaten, es gibt nur Vergangenheit und Gegenwart, keine Zukunft. Wenn die Kinder groß sind, fahren wir endlich mal drei Wochen nach Brasilien – solche Pläne habe sie nicht. Schon bei dem Vorhaben »Nächsten Sommer nach Usedom« überfällt sie die Sorge: Wer weiß, ob er dann noch lebt. Ihre Pläne reichen von jetzt bis übermorgen, bis zum nächsten Frühling, vielleicht.
Dora
Weitere Kostenlose Bücher