Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
verbrachte ihre Kindheit bei den Großeltern, Sicherheit und Wärme hat sie nur bei Alten gefunden. Mit sechs, das war auf Rügen an der Ostsee, besuchte sie öfter einen alten Mann, der war fünfundachtzig und konnte spannend vom Krieg erzählen. Bei ihm gab es Brot mit Speck und Senf, das isst sie heute noch gern. Ihr Großvater starb, als sie zwölf war, da begriff sie, dass das Leben endlich ist. Sie hatte ihn gepflegt, sein künstlicher Darmausgang hat sie nicht gestört. Ihre allererste Liebe – sie war neun, er vierzehn – hatte faule Zähne und sah aus wie ein junger Greis, aber er konnte toll tanzen. Er interessierte sich nicht für sie. Sie glaubt, dass sie seit dieser Begegnung um die Aufmerksamkeit und die Liebe der Älteren gekämpft hat.
Zwischen den Alten kann sie sich ewig jung fühlen, immer die Jüngste sein, die Schönste, die Anmutigste, nicht wahr? Dora widerspricht: Sich einem älteren Mann gegenüber zu behaupten, ist viel schwerer, du musst dich gegen die permanente Erziehung wehren, und die Schmerzen der Eifersucht gibt es auch, weil ältere Männer alle Tricks und psychologischen Raffinessen kennen und ausnutzen. Sie fühlt sich oft als die Kleine, die nicht ernst genommen wird. Einem Fünfunddreißigjährigen würde sie viel selbstbewusster gegenübertreten,vor den erfolgreichen Alten aber hat sie Respekt. Erfolg macht jünger, klar. Wenn Oskar ein betagter Buchhalter wäre, würde sie sich vermutlich nicht mit ihm abgeben.
Ekel vor Alten kennt sie nicht: Ich würde sie, wenn es sein müsste, alle im Rollstuhl mit Kackbeutel durch den Park fahren. Ich hätte auch kein Problem damit, dem Mann, den ich liebe, sein Gebiss auszusuchen und es jeden Abend einzuweichen, weil er seine Brille nicht findet. Und wenn ihm beim Beischlaf die Zähne rausfallen, würde ich sie ihm wieder reinstecken und sagen Mach weiter! Wenn ich liebe, gibt es keinen Ekel. Jugend und Schönheit bei Männern interessieren Dora nicht. Wenn er intelligent, witzig und zärtlich ist, kann sie über seine Makel locker hinwegsehen. Im Gegenteil, sie ekelt sich vor zu schönen jungen Männerkörpern: Ein Schwanz muss sein wie ein Gesicht, der muss was erlebt haben. Ihr fällt dieser tolle Italiener mit seinem gottgleich makellosen Körper ein: Der ist in mich rein- und rausgefahren wie eine goldene Draisine, ich lag unter ihm wie eine Tote.
Ihre Versuche, gleichaltrige Freunde zu finden, seien stets missglückt. Sie hat den Eindruck, dass sie zu sehr mit sich selber beschäftigt sind, sie fühle sich unter ihnen wie eine Siebzigjährige: Ich verstehe nicht, warum die nichts vom Leben begriffen haben. Ein Paradox. Einesteils sei das Leben unter Alten die Verlängerung der eigenen Jugend, andererseits bedeute es, lange vor der Zeit mit der Endlichkeit konfrontiert zu sein: Wenn Oskar mal länger als üblich schläft, denke ich, hoffentlich lebt er noch. Wenn es im Bad rumst – hoffentlich ist er nicht tot umgefallen. Wen von den Menschen, die ich jetzt kenne, wird mein kleiner Sohn noch kennen,wenn er zwanzig ist. Falls ich früh sterbe, kann ich nicht sagen, kümmere du dich um mein Kind, dafür sind die alle viel zu alt.
Sie braucht jetzt noch ein Glas Wein, denn da steigt wieder dieser Jammer in ihr auf, die Angst vor dem Alleingelassenwerden und Alleinsein in einer Welt Gleichaltriger, die sie nicht verstehen und die sie nicht versteht. Manchmal möchte ich mitsterben, sagt sie und muss sich schon wieder die Nase pudern.
Kalter Kuss
Wenn er beim Rasieren in den Spiegel guckt, wird er manchmal schwermütig. Jetzt biste alt, denkt er, wenn er seine weißen Haare sieht. Schlechte Zähne hatte er schon immer, zu viele Süßigkeiten. Schönfeld kehrt eben von einer Beerdigung zurück, russisch-orthodox. Er hat das Largo von Bach gespielt, auf dem Harmonium. Dann den Gefangenenchor aus Nabucco und am Ende »As time goes by« aus dem Film Casablanca. Seine Trauertracht ist sportlich, schwarzer Pullover mit Reißverschluss, schwarze Jacke: Den Harmoniumspieler sieht man nicht. Er kennt alle Friedhöfe in Berlin, seinen Lebensunterhalt verdient er mit Musik zum Rein- und Rausgehn. Die Atmosphäre von Beerdigungen ist ihm angenehm: Ich mag die Premierenstimmung, es ist ein bisschen wie am Theater, wie eine Inszenierung, die am nächsten Tag wieder abgesetzt wird. Der Friedhofsjob sei nicht so strikt an Regeln gebunden wie andere berufliche Tätigkeiten, obwohl es für Schönfeld schon Stress bedeutet, wenn er um zehn oder elf
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