Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
am Vormittag in der Kapelle sein muss. Andererseitsschätzt er Ordnung, die von außen kommt, er ordnet sein Leben ungern selber.
Gerd Schönfeld hat mal Kirchenmusik studiert, mit Unterbrechungen wegen Alkoholismus, seit Jahrzehnten trinkt er nur noch Mineralwasser in den Cafés, die er abends mit dem Fahrrad abfährt, um Leute zu treffen und ein bisschen zu reden. Er war mal am Theater, als Requisiteur, in Anklam, bei Castorf. Schöni, wie er von seinen Freunden genannt wird, ist belesener als die meisten seiner Gesprächspartner, ein geselliger Einzelgänger.
Er hat ein Kinderfoto von sich mitgebracht. Ein Zehnjähriger steht mit Bambirad und handgestricktem Parallelo auf der Straße, irgendwo zwischen Wedding und Prenzlauer Berg, irgendwann in den fünfziger Jahren. Ein Junge, der den Kopf schief hält und ernst guckt. Er findet sich zu fein angezogen, musste immer Westsachen tragen und Tuchhosen, er wollte lieber Trainingshosen wie die anderen Kinder; seine Mutter, eine von religiösem Wahn besessene Frau, bestimmte das so, ihr Gerd war was Besonderes.
Gestottert hat er damals schon. Wenn er Kalten Kuss wollte, musste er Himbeereis nehmen, weil er Kalter Kuss nicht rauskriegte. Neulich wollte er eine Fahrkarte nach Lübben kaufen, weil er Lübben nicht rausgekriegt hat, nahm er eine nach Vetschau, die war teurer. In der Schule hat er Mauer gesagt anstatt Antifaschistischer Schutzwall, er kriegte das Wort nicht raus, der Lehrer guckte ideologisch. Seine Kindheit ist ihm allgegenwärtig, er schreibt sie gerade auf, »Briefe an Onkel Karl«, Kindheitserinnerungen, die er in den Cafés vom Prenzlauer Berg vorträgt – Lesungen ohne Honorar, am Ende geht jemand mit Hut rum und sammeltden Dank ein. Schöni ist ein Kind geblieben, ein intelligentes, nervöses Kind, das ein Leben lang spielen möchte: Ich bin aus dem Welpenstadium nicht rausgekommen.
Als junger Mann sei er schüchtern und farblos gewesen, nichts Besonderes. Er konnte sich nie unterhalten, er hatte zu tun, beim Thema zu bleiben: Meine Assoziationsspiralen konnte keiner nachvollziehen. Dazu kam das Stottern. Den Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee hat er gut überstanden, ihn überfiel sogar eine kleine Melancholie, als Schluss damit war. Der Schützenpanzerwagen hatte ihm gefallen, das Handgranatenwerfen und das Skatspielen am Abend, die klaren Strukturen, die von außen hergestellte Ordnung. Er tätowierte seine Kameraden und spielte ihnen auf der Flöte »Hundert Mann und ein Befehl« vor, das machte ihn beliebt.
Für ihn habe sich nichts geändert im Alter, er führe dasselbe Leben wie in seiner Jugend. Er lebte immer am Rand, von Terminen kriegt er Kopfschmerzen. Ein Manager, sagt er, für den tue sich, wenn er fünfundsechzig werde und zu arbeiten aufhöre, ein schwarzes Loch auf, der wisse nicht, wohin mit sich. Ich hatte nie Macht und konnte immer ausschlafen. Ich kann auch nicht sagen, wenn ich alt bin, kann ich endlich reisen. Ich will gar nicht reisen. Ich möchte bleiben, wo ich gerade bin.
Wenn er das Geld hätte, ein halbes Jahr auf der Toteninsel von Venedig auf Beerdigungen Harmonium zu spielen oder in Paris ein Jahr lang an einer Schachmeisterschaft teilzunehmen, wenn er dort leben könnte, nicht als Tourist, sondern einfach so, sähe die Sache anders aus: Ich möchte auch in Venedig oder in Parisganze Vormittage im Bett verbringen und lesen, ohne das Gefühl, was zu versäumen. Solange das nicht geht, bleibe ich lieber, wo ich bin. So war das, als ich jung war, so ist es, seit ich alt bin. Für ihn sei das sogenannte aktive Leben nicht vorbei, er werde ja nicht in die Rente verabschiedet, weil er niemals in einem festen Arbeitsverhältnis gestanden hat. Er ist schon immer ohne Ehrgeiz gewesen. Als er noch Friedhofsgärtner war, traf er mal einen Schulkameraden, der fragte ihn: Was machst du beruflich, Gerd? Ich habe zwölftausend Leute unter mir, antwortete er und meinte die Toten auf dem Friedhof. Der Schulkamerad ging seiner Wege. Ein anderer fragte ihn: Willste dir nicht im Leben was schaffen, dir was aufbauen? Willste nicht auch mal ein Haus haben, Gerd, ’ne Familie und ’n Motorboot? Schöni befand sich sein Leben lang außerhalb des Wettbewerbs. Aber an den Seniorenmeisterschaften im Schach nimmt er teil, die einzige Konkurrenz, in die er sich je begeben hat. Beim Schachspielen habe er Stress ganz gerne, auch bei Beerdigungen, wenn plötzlich und unerwartet ein Geiger da ist, mit dem er nicht geübt hat, es aber so
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