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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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Einmeterachtzig heutzutage schon fast als klein gilt, hätten sie ungläubig den Kopf geschüttelt. Dass Männer Kinderwagen schieben, hätte sie zum Lachen gebracht. Dass die Leute in der U-Bahn Bratkartoffeln essen und Kaffee trinken, hätten sie geschmacklos gefunden. Die sind doch meschugge, würde meine Großmutter gesagt haben, und ihre Tochter hätte genüsslich den Rauch ihrer F6 inhaliert und das mit dem Kaffee in der U-Bahn gar nicht so übel gefunden.

Niemandes Kind mehr
    Man kam zur Welt, die Eltern starben. Man wurde alt und starb dann auch.
    Graham Greene
    Irgendwann rief Hilde an. Sie war eine Freundin meiner Mutter, sie hatten sich seit ihrer Lehrzeit bei Wertheim gekannt. Die Primel, dachte ich, Hilde, die Primel, ihr Kopf hatte immer ein bisschen nach vorn gehangen, wie eine Primel, die zu wenig Wasser kriegt. Ich habe dich gestern im Fernsehen gesehen, Sylvie, sagte die Primel, und wenn ich dich sehe, muss ich immer an Margit denken. Du siehst ihr so ähnlich; ich habe dich schon als Baby auf dem Arm gehabt. Hilde erzählte, dass sie nicht mehr laufen kann und den ganzen Tag zu Hause im Bett liegt, sie könne nichts mehr ohne fremde Hilfe, doch die Pfleger seien sehr nett zu ihr. Hilde wirkte fast fröhlich. Ich konnte doch dreiundachtzig Jahre lang wunderbar laufen, sagte sie, gut, mit zwei habe ich erst angefangen damit, dann bin ich eben einundachtzig Jahre lang gelaufen wie ein Wiesel, jetzt sehe ich vom Bett aus fern, am liebsten Talkshows, da habe ich dich neulich gesehen, Sylvie. Wie du der Margit ähnlich bist, zum Verwechseln!
    Margit, meine Mutter, war nie alt, auch als sie alt war, war sie jung. Als sie starb, mitten im Leben, war ich fassungslos. Sie hatte von dem Ding in ihrem Herzen gewusst, es konnte jederzeit platzen, sie lebte damit und starb daran. Ich war tieftraurig und zugleich dankbar, dass sie mich bewahrt hatte vor dem, was gekommenwäre, wenn sie nicht mehr sie selber hätte sein können. Ich sehe ihr ähnlich, was ich nicht wahrhaben will, welche Tochter will schon wie ihre Mutter aussehen. Sie hatte eine größere Nase, einen volleren Mund, die Schultern waren breiter, die Haare blonder. Ich erinnere mich, dass ihre Tränensäcke ausgeprägter gewesen sind. Dass sie ein Doppelkinn hatte, blaue Adern an den Beinen, und dass sie dicker war als ich, vollschlank nannte sie das stolz. Zudem hatte sie ein ausgesprochen ungezügeltes Temperament, was durch das Alter nicht gemildert wurde, sie regte sich maßlos auf, sie lachte maßlos und konnte nicht aufhören damit. Sie hatte einen maßlosen Willen, was sie sich vornahm, setzte sie durch. Ich bin Schütze, sagte sie, als wäre ihr Sternbild ein akademischer Grad.
    Die Momente, wo man älter sein möchte, als man ist, sind selten im Leben, man merkt sie sich. Im Ufa-Kino am Friedrichshain lief ein Film mit Anna Magnani, die Italienerin war die Lieblingsschauspielerin meiner Mutter, so sah sie sich, leidenschaftlich und autonom. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, mit mir, ihrer zwölfjährigen Tochter, die Magnani zu sehen, in einem Film, der erst ab sechzehn Jahre zugelassen war. Sie malte mir die Lippen rot, stopfte mir einen Busen aus und brannte mit der Brennschere Locken in meine Flusen. So ausgestattet schickten wir uns an, den Eingang des Lichtspieltheaters zu passieren. Die Platzanweiserin guckte erst in mein Gesicht, dann auf meine Beine und sagte: Was will das Kind hier? Das ist kein Kind, empörte sich meine Mutter, bis sie sah, was sie vergessen hatte: Meine dünnen Beine steckten in langen, braunen, gerippten Kinderstrümpfen. Mutter und Kind mussten gehen. Den ganzen Heimweg überschimpfte Margit auf die Platzanweiserin, beschränkt sei sie, bürokratisch, reaktionär.
    Wenn ich daran denke, dass meine Mutter zur Zeit des verhinderten Kinobesuchs erst einunddreißig war, jünger als meine beiden Töchter heute, und dass ich jetzt so alt bin wie sie, als sie starb, gerät mein gesamtes Mutter-Kind-Jugend-Alter-Gefüge ins Wanken. Generationen verschwimmen im Universum des Menschseins. Wir alle sind zugleich Kinder, Mütter, Väter, Großmütter und Großväter, parallel. Wir alle sind jung, wir alle sind alt. »Wir sind vom selben Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umgeben.« Shakespeare.
    Die Bezeichnung ältere Dame traf auf meine Mutter zu keiner Zeit und in keiner Weise zu, obwohl sie eine ältere Frau war, als sie starb und einen verzweifelten jungen Liebhaber

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