Spaghetti in flagranti
alles verstand, wenn etwas nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Otto sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen amüsiert an, was mich alles andere als amüsierte, so gerne ich seinen Blick auch sonst auf mir spürte. Na ja, Hauptsache er hatte Spaß …
»Wir können froh sein, dass sie ihm nicht mit der Haushaltsschere eine neue Frisur verpasst hat, wie damals den Zwillingen. Wisst ihr das noch?«, wandte mein Vater sich an meine Schwestern.
Die beiden nickten stereo, und wie ich zu meiner Zufriedenheit feststellte, wurde ihnen das Tischgespräch auch allmählich unheimlich. Ausnahmsweise waren wir drei uns mal einig.
Trotzdem wurde ich langsam richtig sauer. Musste das alles hier in großer Runde breitgetreten werden, noch dazu vor Otto? Hatten es meine Eltern etwa darauf angelegt, ihn zu vergraulen? Mir war klar, dass mein Vater mit meiner Wahl nicht einverstanden war, aber er hätte sich ruhig ein bisschen mehr wie ein Signore verhalten können. Meine Entscheidung konnte er durch seine albernen Geschichten ganz sicher nicht rückgängig machen. Ich war nun mal erwachsen und gestaltete mein Leben nach meinen Vorstellungen und nicht nach seinen. Auch wenn sie ihm nicht gefielen.
»Oje, das war schlimm!« Allein die Erinnerung an ihre verunstalteten Töchter ließ mamma zusammenzucken, was sie nicht davon abhielt, noch einen draufzulegen. »Aber das war ja gar nichts gegen den ersten Weihnachtsfeiertag vor zweiundzwanzig Jahren, als sie sich die Zuckerperle in die Nase gesteckt hat.«
»Was hat sie gemacht?«, fragten zio Maurizio und seine Frau fast gleichzeitig.
»Was für eine Zuckerperle?«, wollte Otto wissen, der sich noch immer köstlich amüsierte – ganz im Gegensatz zu mir.
»Oh ja!« Babbo war die ebenso peinliche wie schmerzhafte Angelegenheit offenbar noch genauso präsent wie mir. »Weihnachten in der Notaufnahme eines Krankenhauses ist schon etwas Besonderes. Das sollte man mal erlebt haben.«
»Also ich kann darauf ganz gut verzichten«, sagte zia Sandra entsetzt und mit einem Seitenblick auf ihre Töchter, die wie die Hühner auf der Stange auf dem Sofa saßen und mit ihren Gameboys spielten.
Meine Mutter, sichtlich erfreut über die vorwiegend positive Resonanz auf ihre Darbietung, näherte sich immer mehr ihrer Höchstform. »Na, Angela hat zu Weihnachten von einer deutschen Hotelbesitzerin eines von diesen essbaren Armbändern aus Zuckerperlen geschenkt bekommen. Sie war damals drei und so süß.« Sie zwinkerte mir zu.
»Was soll das denn heißen?«, rief ich empört.
Mit einer Handbewegung machte sie mir klar, dass sie nicht unterbrochen werden wollte, und redete weiter. »Natürlich hat das gute Stück bei unserer Naschkatze nicht lange gehalten, und irgendwie hat sie es geschafft, sich eine der erbsengroßen Perlen ins linke Nasenloch zu schieben. Das vermaledeite Ding wollte partout nicht mehr raus und sie fing panisch an zu weinen und sich in der Nase zu bohren. Damit hat sie die Perle jedoch nur noch höher geschoben. Wir haben wirklich alles versucht, ihr sogar mit der Taschenlampe in die Nase geleuchtet und mit einer Pinzette nach dem Ding geangelt, aber nichts wollte helfen. So mussten wir schließlich mit unserer brüllenden Tochter am ersten Weihnachtsfeiertag in die Notaufnahme fahren.«
Alle Blicke ruhten auf mir, als Vale sagte: »Mensch, bella , davon hast du mir ja nie was erzählt.«
»Glaubst du, ich gehe mit der Story hausieren?«, sagte ich und funkelte meine Eltern genervt an. »Basta!« , versuchte ich sie zur Räson zu bringen und schob zur Sicherheit noch ein deutlich versöhnlicheres »Prego« hinterher.
Sie hatten tatsächlich ein Einsehen mit mir, und mamma schickte sich gemeinsam mit nonna an, den nächsten Gang zu servieren: die colombe , die zusammen mit Vin Santo auf den Tisch kamen, einem süßen Dessertwein, der die Farbe von Bernstein hatte und bei uns zu Hause nicht süß genug sein konnte.
Otto merkte, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre, und legte einen Arm um mich. »He, das ist doch nicht schlimm. Lass sie ruhig erzählen, wenn sie wollen. Von mir gibt es auch solche Geschichten, die meine Oma bei jeder Gelegenheit ausgepackt hat. So sind Eltern und Großeltern nun mal.«
»Du und dein grenzenloses Verständnis«, sagte ich und boxte ihn in die Rippen. »Nicht zum Aushalten.«
Dann lehnte ich mich an ihn und genoss zumindest für einen kurzen Moment die Geborgenheit, die er mir inmitten unserer turbulenten Familie
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