Spaghetti in flagranti
er sie nur mit Hilfe seines Löffels unter lautem Schlürfen in den Mund befördern konnte. Das Geräusch, bei dem sich mir seit Jahren die Nackenhaare aufstellten, perlte genauso an ihm ab wie die lautmalerischen und gestenreichen Unmutsäußerungen meines Vaters, als wären es Wassertropfen auf einer frisch gewachsten Motorhaube.
Auch wenn ich meinem Freund zugutehielt, dass er morgens ein Weilchen brauchte, bis er ansprechbar war, und folglich auch seine Wahrnehmung noch nicht voll ausgeprägt war, fand ich das ein wenig rücksichtslos von ihm. Immerhin war er hier zu Gast und nicht zu Hause, da hätte ich mir gewünscht, dass er sich den Gepflogenheiten anpasste. Ich nahm mir vor, seine morgendlichen Essgewohnheiten vorsichtig in die richtige Bahn zu lenken, und ihn am Abend darauf anzusprechen. Schließlich wollte ich nicht, dass mein Vater zum Frühstücken in die Bar neben seinem Wettbüro auswanderte. Vielleicht konnte ich Otto ja wenigstens von Salami- auf Marmeladenbrötchen umpolen – ein Kompromiss, mit dem sicher alle gut leben konnten.
Ganze sechs Minuten hielt ich das Schweigen aus, dann sprang ich auf und machte meinen Schwestern das Bad streitig. Als ich wieder herauskam, wartete Otto schon in Jacke und Schuhen auf mich, den obligatorischen Rucksack über der rechten Schulter. Wir hatten ausgemacht, dass ich ihn mit unserem Auto bei seinem Kurs absetzte, ehe ich zum Krankenhaus weiterfuhr.
Die Fahrt über redeten wir ebenfalls kein Wort, was mir nur recht war, denn meine schlechte Laune war auf dem Siedepunkt angekommen. Dieses Gemuffel am frühen Morgen war definitiv nichts für mich. Die Verabschiedung fiel daher ungewohnt knapp aus.
Mamma wartete bereits auf mich, als ich im Ospedale Ceccarini eintraf.
»Wo bleibst du denn?«, schleuderte sie mir entgegen, kaum dass ich die Tür zum Krankenzimmer geöffnet hatte. Sie sah übermüdet aus und hatte offensichtlich nicht viel geschlafen.
»Tut mir leid, es war viel los heute Morgen, ich stand im Stau«, entschuldigte ich mich. Dass ich zehn Minuten zu spät gekommen war, weil ich wegen Otto einen Umweg gemacht hatte, behielt ich wohlweislich für mich.
»Ah, Angelina, da bist du ja«, sagte nonna .
Wenigstens eine Person in diesem Raum schien sich über meinen Besuch zu freuen. Sie hatte schon wieder ein wenig Farbe im Gesicht und saß aufrecht im Bett, einen Tee und eine Zellophanpackung mit Zwieback vor sich auf dem Nachttisch. Beides hatte sie nicht angerührt.
Nachdem mamma gegangen war, winkte meine Oma mich zu sich und drückte mir einen Fünfeuroschein in die Hand. »Hier, Kindchen. Geh doch bitte runter an die Bar und hol mir einen Cappuccino und eine Brioche. Von diesem Zeug da«, sie deutete auf den Zwieback, »kann kein Mensch gesund werden.«
Ich wollte erst protestieren und ihr erklären, dass die Ärzte sich gewiss etwas dabei gedacht hatten, wenn sie ihr Schonkost servieren ließen, aber als sie mich ansah wie ein halbverhungerter streunender Hundewelpe, konnte ich nicht anders und ging los.
»Und bring dir auch einen caffè mit«, rief sie mir noch hinterher.
Offenbar wusste meine nonna , was ihr guttat. Nachdem die Ärzte sie nach dem heimlichen Frühstück, dessen Überreste ich diskret im Mülleimer auf dem Gang entsorgte, noch mal gründlich durchgecheckt hatten, durfte ich sie nämlich mit nach Hause nehmen.
Nach zwei weiteren Tagen war sie vollends wieder auf den Beinen, und wir alle waren sehr erleichtert, vor allem Otto. Dabei machte meine Oma ihm nicht den geringsten Vorwurf und war genauso herzlich zu ihm wie eh und je. Mamma hatte sich inzwischen auch beruhigt und sich bei ihm für ihre heftige Reaktion entschuldigt. Selbst mein Vater hatte eingeräumt, dass Ottos Schuld an nonnas Salmonellenvergiftung keineswegs zu beweisen sei. Ob er ihn nach wie vor als Gefahr für unser Familienheil betrachtete, war nicht zu erkennen. Dennoch blieb am Ende irgendwie ein fader Beigeschmack.
10.
Der April hielt Einzug und mit ihm der Abschiedsschmerz, denn Ottos Kurs war beendet, und seine – wenn auch nur vorläufige – Rückkehr nach Deutschland stand unmittelbar bevor. Für mich fühlte es sich trotzdem an, als wäre es ein Abschied für immer. Seit Tagen schlich ich mit Trauermiene durchs Haus, und nicht mal der Brief von der Schulbehörde konnte mich aufheitern. Dabei hätte ich allen Grund zur Freude gehabt, denn darin stand, dass ich bei dem concorso wie schon vermutet sehr gut abgeschnitten hatte und daher auf
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