Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
schließlich sind wir umringt, völlig hingerissen, weil sich der Zauber des Augenblicks so wunderbar der Realität anpaßt. Die Anmut zu sehen, mit der sich die Seehunde bewegen, ist so, als sehe man einen Geist lebendig werden. Obwohl sie wachsam sind, bleiben sie in gewisser Weise sorglos, sanfte Geschöpfe, neugierig, verletzlich und zutraulicher, als sie sein sollten.
»Ach, wenn man so schwimmen könnte«, seufzt Judy, »und in seinem Körper so zu Hause wäre. Ich verachte meinen so sehr.«
»Ich hab gerade dasselbe gedacht«, sage ich. »Wenn wir nur unsere Flügel ausbreiten und freier mit unserem Körper umgehen könnten, dann könnten wir aufsteigen und neue Kraft für unsere Seelen sammeln.«
»Glaubst du, sie laden uns ein?« fragt Martha. »Dieser Blick, den sie einem zuwerfen, bevor sie abtauchen? Ich glaube, das ist eine Einladung.«
Etwa zwanzig von ihnen haben sich in die sanfte Brandung treiben lassen, die aufgekommen ist. Sie reiten auf den Wellen, schlagen fröhlich Salto dabei. Während wir bewundernd zuschauen, taucht ein Seehundjunges neben dem Boot auf, streckt den Kopf hoch und starrt Joan direkt an – die kleinen Barthaare zucken, die Augen so groß wie Golfbälle. Und dann, nachdem er Kontakt aufgenommen hat, taucht er wieder ab, und das klare Wasser erlaubt es uns, ihm bis in die Tiefe nachschauen zu können.
|117| »Wow!« seufzt Joan und läßt sich, etwas überwältigt, auf ihren Sitz zurücksinken. »Was für ein Erlebnis – mehr kann ich heute einfach nicht aufnehmen.« Ihr Kummer ist so gut wie verschwunden.
Und dann läßt Pete mit einem Ruck den Motor wieder an. Unsere Zeit im Paradies ist vorüber. Obwohl es mir immer schwerfällt, von so einem Ort Abschied zu nehmen, erkenne ich an den befriedigten Gesichtern, daß alle mehr als erfüllt sind. Außerdem haben die Seehunde das Interesse an uns verloren und sich in verschiedene Richtungen zerstreut – einige sind zurück an Land, wo sie ihre plumpen Körper im Sand reiben und scheuern, bevor sie sich herumrollen und in der warmen Sonne aalen, andere jagen nach Fischen, und eine Herde von etwa zwanzig schwimmt hinaus aufs Meer.
Wir sitzen schweigend da, lassen unsere Sinne zur Ruhe kommen, während Pete das Boot wendet und zurück zum Dock fährt. Mehrere Seehunde folgen in unserem Kielwasser und verschwinden dann endgültig. Ich staune über ihre Wandlungsfähigkeit – von einer Welt in die andere überzugehen und in beiden gleichermaßen vollkommen und unerschrocken lebendig zu sein. An der Heiterkeit in den Gesichtern meiner Freundinnen erkenne ich, daß aller Kummer momentan vergessen und an seinen Platz wohlverdienter Friede und Zufriedenheit gerückt sind.
Allzuschnell sind wir wieder im Hafen. Das ist immer ein Schock.
»Wo waren wir?« fragt Hazel, als wir die Laufplanke hinaufstolpern und zum Bus gehen.
»Irgendwo weit weg«, antwortet Judy träumerisch.
»Ich weiß nicht, ob ich woanders hinmöchte«, sagt Martha. »Der Übergang kommt mir zu plötzlich.«
»Ich weiß«, bestätige ich. »Mir geht es jedes Mal genauso, aber keine Bange, ich lasse nicht zu, daß der Zauberbann gebrochen wird. Es gibt noch mehr davon, solange das Wetter |118| hält.« Widerstrebend steigen alle in den Bus, und wir fahren los.
»Waren sie nicht wie Kinder?« fragt Joan. »Diese Geschöpfe haben den Spieltrieb in mir wieder geweckt.«
»Genau«, stimmt Judy zu. »Das ist etwas, wofür ich mir mehr Zeit gönnen muß.«
»Du hast recht«, denke ich laut. »Das ist der Grund, warum ich nach so einem Ausflug nicht an Land zurückkehren mag. Sich treiben zu lassen, weg von jeglicher Struktur, die Wildnis zu erleben, weckt in mir immer den Wunsch nach mehr. Wir leben in einer zu engmaschigen Welt.«
»Allerdings«, bestätigt Joanie. »Aber jetzt haben wir eine Vorstellung, mit der wir arbeiten können. Genau wie die Seehunde brauchen wir kein großartiges Wissen. Wir haben eine Menge Sinne, auf die wir achten müssen. Sie sagen uns, wie wir uns verhalten sollen.«
»Seehundsinn, nenne ich es. Ich glaube, wir haben alle etwas davon abbekommen«, sage ich und präge damit einen neuen Ausdruck, der zu unserem neuen Bewußtsein zu passen scheint.
Ich lehne meinen Kopf an den Sitz und bin glücklich, daß ich dieses Erlebnis mit den anderen teilen konnte. Wieder einmal haben wir die Sicherheit des festen Bodens verlassen und sind dadurch über unsere individuellen Verletzungen hinausgegangen. Die Bewegung und die Emotion, die
Weitere Kostenlose Bücher