Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
roten Fuchs entdeckt haben, der in eine Pfütze starrte?«
Ich lächele bei der Erinnerung.
»Das brachte uns darauf, die Wichtigkeit der Reflexion zu |124| erkennen. Wenn ich mich richtig erinnere, verbrachten wir dann den Nachmittag damit, über Reflexion nachzudenken. Es geht darum, alles zu nutzen, was um dich herum ist, deine Sinne mit der Welt zu verschmelzen, wie ein Tier oder ein Kind es tun würde, um die Klarheit zu finden, die du suchst. Wieder mal liegt der Schlüssel darin, locker zu werden. Wo Neugier und spielerische Entdeckung im Mittelpunkt der Aktivität stehen, gibt es wenig Gelegenheit zum Versagen.«
»Du redest schon wieder davon, aktiv zu werden.«
»Ganz genau. Ideen keimen nicht, wenn man nur drinnen sitzt und auf ein Blatt Papier starrt. Du mußt sie wieder und wieder aktivieren – sie zum Leben erwecken.«
Ihre Worte sind ermutigend, aber persönliche Essays zu schreiben, kommt mir mehr denn je wie ein mühseliger Kampf vor.
»Und zieh um Gottes willen«, sagt sie und klingt jetzt wie ein Trainer oder Cheerleader, »diesen Wollrock aus, den du ständig trägst, binde dir ein Stück Chiffon um die Hüften, entledige dich deiner Unterhose und setz dich eine Weile in den Sand. Dann hast du deine Gefühle und Ideen in Null Komma nichts zurückerlangt.« Sie zwinkert, lacht über ihren eigenen Ratschlag. »Schließlich entsteht Wissen aus gut verarbeiteten Lebenserfahrungen. Hör auf, dich so sehr auf deinen Verstand zu verlassen, und nimm Verbindung mit den Erfahrungen auf.«
»Okay. Okay. Ich hab verstanden. Genug von mir. Ich sehe, worauf du hinauswillst. Laß uns aufessen, damit ich weitermachen kann und du zu deiner Sekretärin zurückkehren kannst. Wenn ich höre, wie du ihr oder deinem Kassettenrekorder diktierst, macht mich das mehr als neugierig darauf, wohin deine Gedanken dich tragen.«
»Ich hab noch einen langen Weg vor mir, aber das Bisherige ist sehr überraschend. Als Erik und ich annahmen, Weisheit und Integrität seien die Stärken des Alters, lagen wir ein bißchen daneben.«
|125| »Wirklich?«
»Jawohl. Diese Worte waren einfach zu erhaben und unbestimmt. Ich erkenne allmählich, daß ich sie auf die tatsächlichen Gegebenheiten herabschrauben muß, um das achte Stadium glaubwürdiger zu machen.«
»Das gefällt mir«, sage ich, »weil du mir damit beweist, daß es nie zu spät ist, den verlorenen Faden wieder aufzunehmen oder sich zu revidieren.«
»Gut, Liebes, ich bin dir sehr dankbar für diese Bestätigung. Wie auch immer, ich habe mich in das
Oxford Dictionary
und ins Sanskrit vertieft, um ein paar grundsätzliche Hinweise zu finden. Weisheit stammt letztlich von dem Wort
veda
ab, was ›sehen‹ und ›kennen‹ bedeutet. Ist das nicht witzig?«
»Du meinst, es hat nichts mit Wissen zu tun?«
»Ganz im Gegenteil. Es geht einfach ums Sehen. Und Integrität, stellt sich heraus, dreht sich um Taktgefühl, was Berührung bedeutet! Sehen und berühren. Damit sind wir wieder bei den Sinnen. Das ist es, was alte Menschen ihr ganzes Leben lang getan haben. Also scheint es offensichtlich, daß man, egal, wer man ist, mit Erreichen des achten Stadiums seine Weisheit gelebt hat. Aber das ist nur eine weitschweifige Erklärung dafür, daß ich noch größere Überarbeitungen vor mir habe, bis ich zum neunten Stadium komme. Wie gut, daß ich dabei so viel Spaß habe, nicht wahr?«
»Allerdings. Ich habe Überarbeitungen immer als mühsam empfunden«, sage ich.
»Ich kann nicht zulassen, daß mich jetzt noch irgendwas bremst. Meine Uhr tickt. Ich bin sozusagen angekommen – ich hab nicht mehr alle Zeit der Welt, weißt du.« Obwohl sie unbekümmert mit dem Altwerden umgeht, höre ich doch eine gewisse Traurigkeit aus ihren Worten heraus, während sich ihre Augen umwölken.
»Du denkst immer an diesen Gedankenstrich, nicht wahr?« frage ich und bekomme so wieder ihre Aufmerksamkeit.
|126| »In der Tat. Schau, ich weiß, daß wir es in uns haben. Da wir einsame Kinder waren, du und ich, sind wir zum Schreiben geschaffen. Wenn man von Anfang an außen steht, wird man ein aufmerksamer Beobachter.«
»Ich hätte nie geglaubt, daß sich Einsamkeit als Vorteil auswirken könnte.«
»Nun, in meinem Fall ist kontemplatives Schreiben (und das ist es, was du tun wirst) weder geistreich noch literarisch. Statt dessen berichtet es genau über das, was man in sich und außen beobachtet.«
Ich räume das Geschirr weg und spüle es ab, ich muß mich bewegen, etwas tun. Ihre
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