Spaziergang im Regen

hinunter in die ersten Reihen und suchte, bis sie Shara entdeckte. Ihr Lächeln wurde breiter, und sie schenkte ihr ein kleines Kopfnicken, das, obwohl kaum merkbar, dazu führte, dass Shara sich unglaublich besonders vorkam. Der Moment war vorüber, noch bevor er richtig begonnen hatte. Jessa wandte sich zur Seite, um der Ersten Geige die Hand zu schütteln und den Rest des Orchesters zu begrüßen. Dann betrat sie das Podium und hob den Taktstock.
    Nach einem Moment vollkommener Stille erklangen die unverwechselbaren ersten Töne des angespannten, grüblerischen, fast ärgerlichen ersten Satzes von Mahlers zweiter Symphonie, der Auferstehungssymphonie .
    Shara war wie hypnotisiert. Jede Bewegung von Jessas Körper war von Bedeutung, und sie hielt nichts zurück. Die körperliche Kontrolle und das emotionale Eintauchen, mit der sie dirigierte, machte es Shara unmöglich, ihren Blick abzuwenden. Es gab keinen Zweifel, dass Jessa Hanson eine Führungspersönlichkeit war – von dem Moment an, da sie vor das Orchester trat, wurde sie zu dessen Herz und Seele.
    Shara hatte Aufnahmen von Mahlers Zweiter gehört, und sie war ihr immer ein wenig unzusammenhängend vorgekommen, aber als sie nun zuhörte, führte das Orchester nicht nur mit ungeheurer Präzision jede einzelne Note aus, sondern jeder Satz floss sogar für ihre relativ ungeübten Ohren mit perfektem Tempo in den nächsten über. Jessa hatte nicht nur das Publikum in ihren Bann geschlagen, sondern offenbar auch die Musiker.
    Es war eine Symphonie mit allen Facetten, von spärlich zu üppig, von gequält zu triumphierend, von Verzweiflung zu Frohlocken und allem dazwischen. Während der ruhigen Passagen waren Jessas Bewegungen nuanciert und fast zart, aber Shara bemerkte, wie ihr eigener Körper sich anspannte, als sich Ruhe und Beherrschtheit immer weiter aufbauten und in kleine Explosionen musikalischen Ausdrucks mündeten, die Mahler scheinbar für dieses herrliche Orchester und die Frau, die es dirigierte, geschrieben hatte. Sharas Bauch machte einen Salto, als Jessa sich in die musikalischen Höhepunkte warf, wobei eine widerspenstige Locke auf ihre Stirn fiel und sich an ihre weiche Haut schmiegte, die vom Schweiß glänzte.
    Der vierte Satz begann, und Shara musste ihre vorgefasste Meinung über Bord werfen; Urlicht war eines der schönsten musikalischen Stücke, das sie jemals gehört hatte. Und Jessa Hanson ist eines der schönsten menschlichen Wesen, die ich jemals gesehen habe .
    Als die Altistin ihren Platz vor dem Orchester einnahm, riss Shara für einen Moment ihren Blick von Jessa los, um dem vollen Klang der tiefen Stimme – diesem höchsten und intimsten Instrument – gebührende Achtung zu erweisen. Das eindringliche Solo der Sängerin, das in ein Duett mit einer hinter der Bühne gespielten Geige mündete, berührte Shara tief in ihrem Innern.
    Als der Chor auf die Bühne kam, stellten sich die kleinen Härchen an ihren Armen leicht auf, und während sich der letzte Satz voll entfaltete – mit all der Anspannung, dem Zweifel, der Wut und letztendlich dem Triumph – fühlte sie alles in ihrem eigenen Körper wiedergespielt, der sich mehr und mehr anspannte. Eine Schicht musikalischer Intensität folgte der nächsten, bis es schließlich in einem finalen, triumphierenden Höhepunkt gipfelte, der Tränen in ihre Augen brachte, die sich dann langsam einen Weg über ihre Wangen suchten.

Kapitel 16
    A ls sich die Tür zu ihrer Garderobe öffnete, breitete Jessa die Arme aus und empfing Shara, die zu ihr gelaufen kam. Brad schloss taktvoll die Tür hinter Shara, aber er hatte ein für ihn untypisches Lächeln auf den Lippen. Das wurde aber auch Zeit , dachte er. Er hatte genug Gespräche zwischen der kleineren Frau und ihrem nicht anwesenden Freund und auch zwischen den beiden Frauen mitbekommen, um zu wissen, dass sich dies anders als nur rein freundschaftlich entwickeln würde. Er hatte zu lange Sicherheitsdienst für berühmte Persönlichkeiten gemacht, um ein märchenhaftes Ende zu erwarten, aber die Art und Weise, wie diese zwei Frauen sich anschauten, gab ihm Hoffnung auf einen guten Ausgang.
    »Du warst unglaublich«, murmelte Shara in Jessas Nacken und atmete den warmen Duft von sauberer Haut und Parfüm ein, der durch die körperliche Anstrengung während des Dirigierens intensiviert worden war.
    »Danke«, murmelte Jessa in Sharas Haar, direkt über ihrem Ohr, ohne sie loszulassen. »Was für ein Erlebnis! Ich bin mir nicht