Spaziergang im Regen
sicher, dass mir schon jemals etwas so perfekt gelungen ist. Es gab keinen Moment, in dem ich dachte, dass das Orchester nicht das traf, was ich mir vorgestellt hatte oder in dem ich hoffte, dass das Publikum etwas nicht bemerkt hatte. Keinen einzigen Moment.«
Shara drückte sie fester an sich, bewegt von der Verwunderung in Jessas Stimme. »Sie wollten für dich perfekt spielen und für sich selbst. Ich habe gehört, wie eine Bratsche meinte, dass du etwas in Mahler gefunden hast, von dem sie nicht wusste, dass es da war, und dass es sie umgehauen hat.« Shara rückte etwas ab, um Jessa anschauen zu können, und lächelte sie an. »Und ich glaube, sie ist scharf auf dich.«
Jessa lächelte zurück. »Das ist mir so was von egal. Dieser Abend heute war nur für dich.«
Shara schaute sie mit großen Augen an, tiefbewegt von Jessas schlichten Worten.
Jessa betrachtete die weichen, leicht geöffneten Lippen und die grünbraunen Augen, in denen die überschäumenden Gefühle so deutlich zu sehen waren. Sie konnte Sharas Parfüm riechen und war berauscht von dem Duft und von dem Gefühl, Shara in ihren Armen zu halten. Sie wand sich aus der Umarmung und stolperte rückwärts, bis sie einige Meter Abstand hatte.
Shara war verwirrt und etwas gekränkt. »Was ist denn? Habe ich irgendwas falsch gemacht?«
Jessa schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sie hatte ihre Fliege gelockert, die nun um den offenen Kragen ihres Hemdes hing, und ihren Frack über einen Stuhl geworfen. Jetzt stand sie da, in der eleganten, schwarzen Hose und der engansitzenden Weste. Das Make-up, das ihre Augen und Wangenknochen betonte, und der fast verzweifelte Ausdruck auf ihrem Gesicht ließen sie wild erscheinen und, wie Shara fand, sexy.
»Jessa?«
»Du hast nichts falsch gemacht, Shara. Im Gegenteil, du hast alles richtig gemacht!« Mit diesem kryptischen Kommentar wandte sich Jessa von ihr ab und begann damit, ihre Manschettenknöpfe abzunehmen.
»Ich verstehe das nicht. Ich dachte, du wolltest –«
»Meinen Triumph feiern? Tja, das wäre schon schön. Ich würde gern nach der besten Vorstellung meines Lebens von der Bühne kommen, die Frau, die ich liebe, in meine Arme schließen und mich in ihrer Herzlichkeit baden und in der Freude daran, was ich geleistet habe.« Sie wandte sich wieder Shara zu. »Aber das ist ja nur eine Wunschvorstellung, nicht wahr? Ich bin hier mit der Verlobten eines anderen, und wenn ich meinen Instinkten folge und sie küsse, wenn ich dem nachgebe, was mein Herz und mein Wesen für richtig befinden, dann fällt diese Wunschvorstellung in sich zusammen, oder nicht?«
Shara wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb, und ihr Körper verlangte danach, die kurze Distanz zwischen ihnen zu überbrücken und Jessa die Entscheidung abzunehmen, indem sie selbst den Kuss initiierte. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie Jessas Vorbehalte überwinden und sich über ihr Widerstreben hinwegsetzen könnte. Sie wollten diesen Kuss genauso sehr wie Jessa, wenn nicht sogar noch mehr. Aber hatte Jessa gerade gesagt, dass sie sie liebte? Nein, sie konnte das nur allgemein gemeint haben, und etwas anderes anzunehmen, wäre aus der Luft gegriffen. Aber der Gedanke daran verursachte ein so starkes Sehnen in ihr, dass Shara ein kleiner Laut entwich und Tränen in ihre Augen traten.
Sie machte nicht die paar Schritte, die sie zurück in Jessas Arme gebracht hätten, denn die Distanz zwischen ihnen war größer als ein paar Meter Bodenfläche. Das Überwinden dieser physischen Distanz hätte sie in einen Gefühlsstrudel gerissen, dessen Konsequenzen sehr viel weiter gereicht hätten, als die körperliche Befriedigung, die unbestreitbar gefolgt wäre.
Mit diesen Schritten hätte sie die Bedeutung der Tatsache geleugnet, dass sie bereits mit jemandem in einer Beziehung steckte. Oder geleugnet, dass zwischen ihr und Jessa eine Anziehungskraft bestand, die Dereks Existenz zu einem Problem werden ließ. Sie musste sich eingestehen, dass ihr letzteres mehr ausmachte als ersteres.
Sie konnte sich nicht einmal einreden, dass es ja sicher bei einem freundschaftlichen Kuss geblieben wäre, oder dass es, mit Brad vor der Tür dieses öffentlich zugänglichen Raums, unschuldig hätte zugehen müssen. Sie wusste, ja sie hatte es seit dem ersten Kuss gewusst: Sobald Jessa und sie sich wieder anders als rein freundschaftlich berühren würden, gäbe es kein Halten mehr, bis sie sich geliebt
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