SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Eine Weile fehlen uns die Worte, und wir gehen schweigend nebeneinanderher. Dann erzählt mir Rudi, dass er sich noch heute über seine damalige Entschlusskraft wundert. Ihm sei damals keineswegs klar gewesen, ob es ein Ausstieg auf Zeit sein würde oder einer für immer. Nur eines habe er gewusst. Seinen Plan, die Alpen zu durchqueren, den wollte er unbedingt durchziehen! 1800 Kilometer, von Ost nach West, von Salzburg nach Nizza. Allein, zu Fuà und mit dem Rucksack. Hat ihn denn nie der Mut verlassen? Nach zwanzig Jahren in Flugzeugen und Büros ist eine solche Tour ja nicht gerade einfach. Wenn ich ausstiege, würde ich es jedenfalls eher mal mit kleineren Etappen versuchen.
»Ich hatte schon Angst, dass ich das physisch nicht durchhalten würde. Ich bin ein bisschen naiv an die Sache herangegangen: Ich hatte noch fünfzehn Kilo mehr auf den Rippen als jetzt, einen schönen Banker-Bierbauch, hatte nicht viel trainiert, eine nagelneue Ausrüstung, nichts davon eingelaufen. Ich sag dir, die Schuhe haben mich fast umgebracht!«
Rudi ist einfach losmarschiert und wurde gleich von Gewittern und schlechtem Wetter erwischt. Weil er optimal ausgerüstet sein wollte für alles, hatte er viel zu viel Gepäck dabei. Zwei, drei Tage nach dem Aufbruch erlebte er eine kritische Phase, stand kurz vorm Abbruch.
»Aber Gott sei Dank hatte ich mein Vorhaben so groÃmäulig hinausposaunt, dass es einfach kein Zurück mehr gab«, erinnert sich Rudi lachend. »Ich habe mich dann einfach nochmal ein paar Tage ausgeruht, und dann ging es aber. Allmählich hab ich meinen Rhythmus gefunden und auch meinen Körper viel besser kennengelernt, habe gespürt, was ich ihm täglich zumuten kann, und gelernt, dass der Körper Selbstheilungskräfte hat, wenn man ihm nur die Zeit gibt. Ja, und dann kamen eigentlich nie mehr Zweifel auf an der eigenen Courage.«
Von einem Banker-Bierbauch ist heute jedenfalls nichts mehr zu sehen. Man merkt Rudi an, dass er das Laufen in den Alpen inzwischen gewohnt und ziemlich durchtrainiert ist. Im Gegensatz zu mir. Ich bin zwar sicher zehn Jahre jünger als er, komme aber selbst bei harmlosen Steigungen relativ schnell aus der Puste. Ãber uns türmen sich mittlerweile dunkle Gewitterwolken auf. Jetzt nicht auch noch Regen, denke ich. Rudi nimmtâs gelassen. Auf dem halben Jahr durch die Alpen wird er in das eine oder andere Unwetter geraten sein. Ein halbes Jahr? Drunter gingâs wohl nicht? Hätten zwei Wochen nicht auch gereicht? Musste es gleich so eine Mordstour sein?
Das Ganze sei natürlich auch wieder Ausdruck seiner Leistungsbesessenheit gewesen, gibt Rudi unumwunden zu. »Am Anfang wollte ich mir vor allem beweisen, wie viele Gipfel ich besteigen kann. Aber das hat sich während der Reise geändert.« Nach und nach habe er sich von dieser strengen Etappenplanung verabschiedet und auch mal was anderes gemacht: Ruhepausen, kürzere Etappen, nicht mehr nur Gipfelstürmen. Dabei sei es für ihn wichtig gewesen, dass die Strecke nicht zu kurz war und eine gewisse Dauer hatte. Diese Zeit, acht Wochen bestimmt, habe er einfach gebraucht, um von den eingebrannten Denkmustern wegzukommen.
»Bei anderen mag das schneller gehen, aber weil ich ja irgendwie ein Junkie war, hab ich eben länger gebraucht. Je gröÃer die Abhängigkeit von der Droge Erfolg und Karriere, desto länger die Zeit für den Entzug.«
Ob er die Anerkennung und die Bestätigung vermisst habe, die einem ständig durch die Zahl der E-Mails und der Anrufe suggeriert würde? Was ist passiert, als die ausgeblieben sind?
»Nichts. Im Gegenteil. Und bis heute vermisse ich nichts davon, und mein Selbstbewusstsein ist heute gröÃer als damals.«
Wir sind jetzt zwei Stunden unterwegs, und ich bilde mir ein, mich langsam an Rudis schnelles Tempo zu gewöhnen. Wir haben inzwischen die Baumgrenze passiert, setzen uns auf eine Bank am Wegesrand, essen die mitgebrachten Käsebrote und genieÃen das Alpenpanorama. Rudi gibt den sich vor uns am Horizont aufschieÃenden Berggipfeln Namen, die ich, kaum hat er sie ausgesprochen, schon wieder vergessen habe.
Die Regenwolken sind an uns vorbeigezogen, und wir können die Wanderung trockenen FuÃes fortsetzen. Ich kann mir nicht richtig vorstellen, wie es sein muss, wirklich ein halbes Jahr auf sich gestellt in der Natur zu verbringen, aber ein bisschen beneide ich Rudi um
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