SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
seine Erfahrung.
Seine groÃe Tour hat ihn schon sehr verändert, erzählt er mir halb nachdenklich, halb stolz. Das Laufen habe ihm eine unheimliche Befriedigung verschafft, und die Rastlosigkeit ist langsam von ihm abgefallen. Er habe sich auch unangenehmen Fragen gestellt und sei nicht vor ihnen davongelaufen wie früher, wo er sich immer hinter den dringenden Aufgaben des Arbeitsalltags verstecken konnte.
»Das hat mir eine innere Ruhe geschenkt, die ich vorher nicht für möglich gehalten habe«, sagt er heute. Das Naturerlebnis sei dabei für ihn besonders wichtig gewesen. Es klinge paradox, aber je wilder und menschenleerer die Natur, desto geborgener habe er sich gefühlt.
Ich frage mich, ob die innere Ruhe, die er beschreibt, wirklich dauerhaft bei ihm eingekehrt ist. Oder ob er, nachdem er sein ganzes Leben dem Leistungsprinzip untergeordnet hat, nicht doch wieder rückfällig wird und sich, sobald sich in seinem neuen Leben die Gelegenheit bietet, doch wieder neue hohe Ziele setzen will. Im Moment jedenfalls strahlt Rudi tatsächlich eine ziemlich groÃe Ruhe aus.
Nach knapp sechs Monaten kommt Rudi am Mittelmeer an. Hinter ihm liegen 120 Etappen, 129 Gipfel, davon 33 Viertausender und 65 Dreitausender, 63 Berghütten und dreizehn Biwaks.
Und die Existenzängste?
»Sind schon lange weg«, sagt er. »Sie waren ja ohnehin total übertrieben.« Ein GroÃteil seiner Ausgaben sei schlichtweg unnötig und Ausdruck seines alten und falschen Luxuslebens gewesen. Wozu einen Zweitwohnsitz, einen Zweit- oder Drittwagen? Ein Auto reicht doch. »Finanzielle Sicherheit ist doch ohnehin relativ. Ich habe einen nicht unerheblichen Teil meines Vermögens in der Finanzkrise verloren, denn ich hatte, wie es typisch für leitende Angestellte von Banken ist, Aktien meines Arbeitgebers Lehman Brothers besessen ⦠Tja, und die waren dann mit einem Mal nichts mehr wert.« Aber das sei ihm nicht so wichtig. Ich hab deswegen kein Mitleid mit Rudi. Bei einem Blick auf seine Biografie und seine bisherigen Arbeitgeber bin ich mir sicher, dass er immer noch nicht am Hungertuch nagt und genug beiseitegelegt hat, um davon die nächsten Jahre unbeschwert leben zu können.
Die Reise, sagt er, habe ihm gezeigt, dass er gar nicht viel brauche. Am Anfang habe er zwar noch die ein oder andere Nacht in einem Luxushotel verbracht, um am Ende nur noch bei den Schafhirten zu schlafen und zusammen mit ihnen bei Käse und Brot zu sitzen. »In gleichem MaÃe, in dem ich immer weniger hatte, ist meine Zufriedenheit gewachsen. Und auch meine Angst, dass ich als Ex-Investmentbanker keinen anderen Job mehr finden würde, war Quatsch. Ich kann doch alles machen. Sogar Hüttenwirt werden«, sagt er grinsend.
Es beginnt zu dämmern. Wir treten den Rückweg an. Schade eigentlich. Je länger ich mit Rudi zusammen bin, desto besser kann ich mir vorstellen, wenn auch nicht ein halbes Jahr, dann doch ein paar Tage oder gar Wochen mit ihm durch die Alpen zu wandern. Aber allein? Ich weià es nicht. Wahrscheinlich würde es mir anfangs ähnlich ergehen wie ihm. Denn auch ich habe inzwischen einen kleinen Bierbauch. Aber danach?
Hat sich denn auch sein Verhältnis zur Zeit irgendwie verändert? »Würde ich schon sagen. Wenn man sehr effizienz- und produktivitätsorientiert ist, dann klinkt man ja sofort alles aus, was irgendwie jenseits des Weges und nicht zielführend ist. Ein schönes Beispiel ist die Art und Weise zu lesen. Ich musste erst wieder lernen, ein Buch richtig zu lesen. Als Manager ist man ja darauf fokussiert, nur das Wesentliche rauszupflücken. Das nennt man dann executive reading , also eine Seite in zehn Sekunden visuell abscannen und dann die drei wichtigen Fakten rausziehen. Dabei bleibt viel auf der Strecke, die Schönheit der Sprache zum Beispiel. Also, ich musste mich erst mal wieder zwingen, Zeile für Zeile in Ruhe zu lesen. Das ist nur ein Beispiel, aber viele Dinge des Erlebens, die ich irgendwie verloren hatte, sind jetzt wieder möglich.«
Im Gemsli angekommen, muss sich Rudi sofort wieder in den Hüttenbetrieb einklinken. Im Sonnenuntergang wischt er, mit einem kleinen Eimer und einem Lappen bewaffnet, die Plastikdecken der Tische vor der Berghütte ab. Seelenruhig. Einen nach dem anderen. Als wäre es eine Zen-Ãbung. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihn bisher noch nie mit einem Handy gesehen
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