SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
habe.
Als er an meinen Tisch kommt, frage ich ihn: »Bist du denn jetzt eigentlich glücklich?«
Er zögert kurz. »Ich würde schon sagen, dass ich glücklich bin. Ich habe zumindest meine frühere Rastlosigkeit verloren. Ich bin immer noch nicht angekommen oder der, der ich gern wäre. Doch ich habe den Eindruck, seit meiner Tour hab ich sehr viel gelernt. Bin persönlich gereift.«
Er wünsche sich jetzt Kinder, er wünsche sich Familie, und er wolle sich mit seiner Partnerin etwas aufbauen, was von Dauer ist. Das sei früher nie so gewesen. Mittlerweile sei er aber bereit, hier die oberste Priorität in seinem Leben zu setzen. Er habe jetzt auch nicht mehr das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, und ruhe tatsächlich mehr in sich selbst. Er sei nicht mehr so abhängig von der Anerkennung Dritter, sondern spüre deutlicher, was er selbst wolle.
Tatsächlich? Manchmal wirkt das, was Rudi mir da erzählt, ein bisschen zu perfekt, ja, ein wenig einstudiert. Da scheint doch hier und da noch der alte aalglatte Rudolf Wötzel durch, der auch als Aussteiger gefallen, der Beste sein und immer absolut alles richtig machen will. Dabei verlangt das ja niemand von ihm. Zumindest ich nicht. Ich habe einen Mordsrespekt vor seinem Schritt.
»Ich kann mein Leben führen und gestalten, wie ich mir das vorstelle«, sagt Rudi auf dem Weg nach drauÃen. »Und dadurch habe ich endlich das Gefühl, im Jetzt zu sein, im Jetzt zu leben. Seit ich drauÃen bin, hab ich nicht mehr das Gefühl, alles auf morgen zu verschieben. Das ist ja, was die Gegenwart so unheimlich abwertet. Die Gegenwart hat eine unheimliche Aufwertung erfahren. Und das macht mich alles zusammen wirklich sehr glücklich. Bewusster und glücklich.«
Wir gehen zusammen zum Massenlager im Nachbarhaus. Rudi muss dort die Betten für eine zehnköpfige Wandergruppe aus Deutschland machen. Auf jedes Bett legt er eine schlichte und sehr kratzig aussehende Wolldecke und ein Kopfkissen. Mir fällt gleich auf, wie akribisch er die Decken faltet.
»Hab ich bei der Bundeswehr gelernt. Das verlernt man nicht mehr«, sagt er lachend.
Ob er nach seinem langen Erkenntnisprozess nicht auch manchmal den Wunsch habe, nicht nur sein Leben, sondern auch die Gesellschaft zu verändern? Eine ziemlich kritische Sicht auf die Verhältnisse habe er ja jetzt schlieÃlich.
Rudi lächelt ein wenig gequält: »Nein. Das bin nicht ich. Für mich ist der Weg, etwas zu ändern, an mir selbst etwas zu ändern. Ich will mir ein Wirkungsumfeld schaffen, das gerade so groà ist, dass ich es noch beeinflussen kann. Und nicht so groà ist, dass ich wieder fremdbestimmt bin vom System. Klar könnte ich auch sagen, ich will das System per se verbessern und Politiker oder Aktivist werden. Aber das ist nicht mein Naturell.«
Nein. Ein Revolutionär ist Rudi sicher nicht. Politisch sein ist nicht sein Ding. Das merkt man. Muss er ja auch nicht. Als Aktivist oder Politiker würde man doch nur frustriert, wenn man die Dinge nicht so verändern könne, wie man wolle, meint er. Ohnehin sieht er zu einer generellen Systemkritik keinen Anlass. Das System sei halt nur aus dem Ruder gelaufen.
»Ich hab mir gesagt, ich mach lieber groÃe Veränderungen in einem kleinen Rahmen, in dem ich die Veränderung unmittelbar spüre und andere auch. Das schafft mir einfach eine gröÃere Befriedigung.«
Rudi, der Exbanker und -Workaholic, hat scheinbar seinen individuellen Weg heraus aus dem Hamsterrad gefunden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sein ruhiger Blick, seine gesunde Gesichtsfarbe â er wirkt entspannt. Zumindest in diesem Moment. Vielleicht sollte ich ja auch aussteigen?
Am Abend sitzen wir wieder zusammen vor dem Kamin. Rudi fragt mich über mein Leben aus, und ich erzähle ihm von meinem mir manchmal so stressig erscheinenden Alltag, aber auch von meiner Familie und meinem Sohn Anton, die ich gerade ziemlich vermisse. Er hört mir interessiert zu und wird ein bisschen wehmütig. Es quält ihn, dass er mit fast fünfzig keine Familie und keine Kinder hat. Irgendwie gehört das für ihn eben doch zum perfekten Lebensplan dazu.
Dann erzählt er mir, was er mit dem Gemsli vorhat. Ein bisschen schöner machen wolle er es hier schon, wenn er die Hütte nächstes Jahr übernimmt, die Speisekarte kulinarisch etwas aufpeppen und gemeinsam mit seiner Freundin
Weitere Kostenlose Bücher