SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Zwischenalp.
»Die freuen sich schon. Die wissen, was heute kommt. Unsere Kühe haben diesen Jahresrhythmus im Blut«, sagt Erika grinsend auf Schweizerdeutsch, das ich zum Glück ganz gut verstehe. Sonst wäre ich hier aufgeschmissen. »Bevor es losgeht, müssen wir sie noch melken und die schönen Glocken anlegen. Das gehört zum Alpauftrieb dazu, dass wir sie schmücken.«
Erika freut sich sichtlich. Ich bin noch müde und wundere mich, dass die Batzlis und ihre Helfer es nicht sind. Das Melken geht daher im Halbschlaf an mir vorbei.
Danach nehmen Fritz junior, Erika und die anderen den Kühen nacheinander die Halsbänder mit den relativ kleinen Glocken ab und legen ihnen breite, mit Wappen und Ornamenten verzierte Lederhalsbänder mit riesigen Glocken um.
»Die Glocken sind so ein bisschen der Stolz der Bergbauern«, erklärt Erika gut gelaunt. »Die hier haben wir zur Hochzeit bekommen. Die ist besonders schön. Die andere dort hat der Fritz zur Konfirmation bekommen.«
Während ich noch darüber nachdenke, ob ich diese Tradition und die Begeisterung nun seltsam finden und belächeln oder mich wegen dieses Gedankens borniert und arrogant finden soll, scheinen die Kühe längst Bescheid zu wissen und können das Ereignis kaum abwarten: Sie scharren nervös mit den Hufen und versuchen sich loszureiÃen. Als sie endlich losgemacht werden und das Stalltor geöffnet wird, ertönt ein ohrenbetäubendes Bimmeln der Glocken. Der Zug aus Kühen und Menschen setzt sich in Bewegung. Es ist 5.00 Uhr, und erst jetzt bin ich wach genug, um mitzubekommen, was vor sich geht. Vor uns liegt ein Aufstieg von rund 1300 Höhenmetern. Es ist immer noch dunkel, doch auch von den benachbarten Hängen und Wiesen hören wir Kuhglocken bimmeln. Vor uns haben sich schon zwei andere Familien mit ihren Kühen auf den Weg gemacht.
Die Tiere geben das Tempo vor. Es geht flotter, als ich erwartet habe. Wir marschieren im Laufschritt nebenher. Fritz führt den Trekk an. Was das Besondere am Alpaufzug und am Leben auf der Alp ist, will ich von ihm wissen.
»Das kann ich nicht beschreiben. Das ist ganz speziell. Die Natur, die Höhe, den ganzen Tag an der frischen Luft zu sein. Die Tiere, die Kühe, die Familie, die Natur. Das gehört für mich alles zusammen.«
Fritz ringt um Worte. So eine allgemeine und blöde Frage hat ihm scheinbar schon lange niemand mehr gestellt. Er musste im Gegensatz zum Exbanker Rudi nicht erst aussteigen, um den Rhythmus der Natur wiederzufinden. Der begleitet ihn schon sein ganzes Leben lang. Und etwas, was so selbstverständlich ist, lässt sich eben nur schwer beschreiben.
»Für mich ist das mit das Schönste im Leben als Bauer. Wenn der Frühling und der Sommer wieder kommen und wir die Kühe auf die Alp führen. Da beginnt wieder ein neuer Zeitabschnitt. Dann ist wieder ein langer Winter überstanden, und dieser ganze Rhythmus beginnt von vorn. Es ist jedes Jahr das Gleiche, und es ist jedes Jahr schön. Ich gehe jetzt seit 35 Jahren auf die Alp. Ich werde das immer machen«, schwärmt Fritz, während er die Kühe einen steilen Waldweg hochlotst.
Die Morgendämmerung setzt ein. Ich hätte Glück, dass ich rechtzeitig da sei dieses Jahr, betont er noch einmal, denn man könne nie genau vorhersagen und planen, wann der Alpauftrieb sei. Die Natur und die Witterung gäben die Zeit vor. Der Alpauftrieb sei eben, wenn der Schnee in den Bergen getaut ist. Manchmal sei das eher Mitte, manchmal eher Ende Juni. Dann bringen Fritz und die paar verbliebenen Bergbauern ihre Kühe auf die Alp, wo sie den ganzen Sommer über das saftige Gras fressen können, bevor es im Herbst wieder runtergeht. Zuerst auf die Zwischenalp, dann ins Tal und im Winter in den Stall. Seit Jahrhunderten wird das hier so gemacht, und dieses System hat die typische Landschaft der Schweiz, diese besonders gepflegten grünen Wiesen in den Bergen, erst hervorgebracht.
Fritz läuft immer wieder einzelnen Kühen hinterher, die ausgebrochen sind. Er muss höllisch aufpassen, dass sie nicht seitlich der steilen Serpentinen, die den Berg hochführen, abrutschen und sich etwas brechen. Gegen 7.30 Uhr erreichen wir mit den siebzehn Batzli-Kühen die Baumgrenze und kurz darauf ein Hochplateau, die Rinderalp. Ich bin ziemlich auÃer Atem und erinnere mich nicht daran, jemals einen Berg in diesem Tempo
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