SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
nur einen einzigen Eingang für Gäste zu haben. Ich trete eine imposante Holztreppe hinauf, werde von den Palastwachen argwöhnisch gemustert und dann streng kontrolliert. Tuscheln. Strenge Blicke. Aufregung. Ich verstehe leider nicht, was los ist, denn die Herren sprechen Dzongkha. Dann sagt einer etwas auf Englisch zu mir: »Sie können hier leider nicht rein!« Warum? Die Palastwache windet sich ein bisschen und gibt mir dann diskret, aber mit deutlichem Missfallen zu verstehen, dass sie meine legere Kleidung â ich trage eine Jeans und ein langärmliges Hemd â für unangemessen hält. Der König sei heute schlieÃlich im Dzong. Es ist mir sehr unangenehm, ich schaue ein bisschen verlegen an mir herunter und gebe zu verstehen, dass ich ein paar tausend Kilometer gereist wäre und jetzt gleich eine Verabredung mit dem Minister für Bruttonationalglück hätte. Der Minister wird gerufen. Mein erster offizieller Termin in Bhutan droht zu einem peinlichen Desaster zu werden. Ich komme mir vor wie ein rotgesichtiger, grölender FuÃballfan in einer Kathedrale oder wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Das nennt man culture clash . Bravo. Toll gemacht, Herr Opitz.
Doch dann kommt der Minister, grinst verständnisvoll, diskutiert mit den Palastwachen und verspricht ihnen, mich auf Umwegen in sein Büro zu bringen. Die haben Angst, der König könne mich in diesem Aufzug, den ich eigentlich gar nicht so furchtbar unangemessen finde, im Dzong erblicken. Ich bin erleichtert, als die Wachen mir dennoch erlauben, mit dem Minister zu seinem Büro zu gehen.
Der Dzong von Thimphu ist ein eindrucksvoller Bau. Um verschiedene groÃzügige Innenhöfe sind mehrere groÃe Gebäude gruppiert, darunter ein Kloster, ein Wohngebäude für die buddhistischen Mönche sowie der Sitz der Regierung und der des Königs. Auf den Höfen wandeln Mönche und Regierungsbeamte gemessenen Schrittes zwischen den Gebäuden hin und her. Niemand scheint es hier besonders eilig zu haben. Es fällt auf, dass alle Männer, auÃer den Mönchen, das traditionelle Gewand Gho tragen, einen knielangen Mantel, der ein bisschen an einen Bademantel erinnert und der ähnlich wie ein Schottenrock zu nacktem Bein und Kniestrümpfen getragen wird. Der Gho ist wie das weibliche Pendant, die Kira, ein langer Rock mit bunter kurzer Jacke seit dem 17. Jahrhundert offizielles Kleidungsstück und war bis vor einigen Jahren in Bhutan sogar vorgeschrieben.
In seinem Büro angekommen, bietet mir der Minister, Karma Tshiteem, auf den Schrecken erst mal einen Tee und dann einen Platz auf seiner massiven Gästesitzgruppe an, in der ich sofort versinke. Nicht nur aus Scham. Sein Büro ist mit einer orangefarbenen Stofftapete mit vielen Ornamenten ausgekleidet und hat keine Fenster. Der Minister gieÃt mir den Tee ein, dann kommen wir zum Grund meines Besuchs. Was bedeutet Bruttonationalglück, Herr Minister?
»Bruttonationalglück ist eine Entwicklungsphilosophie, in der wir Zeit als Leben sehen und nicht als Geld«, antwortet Karma Tshiteem. »Ich glaube, das unterscheidet diese Philosophie und unser Land von den meisten anderen Entwicklungsideen. Da steht immer das Wachstum an erster Stelle. Natürlich sind uns in Bhutan Bruttosozialprodukt und Einkommen wichtig. Aber eben auch andere Dinge. Genügend Zeit mit Freunden oder der Familie zum Beispiel.«
Der Minister für Bruttonationalglück ist ein sympathisch dreinblickender Mann. Muss er ja auch irgendwie bei solch einem Job, denke ich mir. Immerhin ist er für nichts weniger zuständig als das Glück der Menschen seines Landes. Eine ziemlich hohe Verantwortung, wenn man es genau nimmt. Er trägt sie scheinbar mit Gelassenheit. Tshiteem ist Ende vierzig, relativ groà und trägt einen gelb-roten Gho, an dessen Revers ein Button des Königs angesteckt ist. Wenn hohes Bruttosozialprodukt und Wachstum die alles dominierenden Ziele seien, sagt der Minister, dann führe das zu der Hetze, die man heute in den Ballungsräumen der Welt beobachten könne, wo das Leben so unbeschreiblich schnell geworden sei, dass Menschen immer länger und härter arbeiten müssten, krank und unglücklich würden. Das sei klar ein Ergebnis der einseitigen Fixierung auf das Wirtschaftswachstum, die alle anderen Aspekte des Lebens ausblendet. In Bhutan habe man sich für einen anderen
Weitere Kostenlose Bücher